Montag, 26. September 2005

Du fändest Ruhe dort

Nicht auf der Stelle, nicht in einem einzigen, stahlblitzenden, kristallinen Moment vergeht der Mensch, und auch das Sterben soll ein mühsames Geschäft sein, und das Totsein kann vielleicht erst recht eines werden: Auf einer langen Wanderung gen Hades vorbei an den grünen Himbeeren und den Feuern, die nicht wärmen, über den Styx in jene Sphären, von denen wir nicht wissen, um erst dort richtig tot zu sein und endgültig vergangen.

In dieses Zwischenreich zwischen Tod und Leben, das wir das Sterben nennen, hat Franz Schubert im Herbst 1827, nur ein Jahr vor seinem eigenen Tod, einen namenlosen Wanderer ausgeschickt, der die 24 Sterbestationen der Winterreise durchläuft und durchleidet, eine menschenleere Welt voll Eis und Kälte in dem blendendem Weiß, von dem ich mir vorstelle, dass es jene letzte Farbe ist, in der alle Farben der Welt einmal verschwinden. Vom romantischen Dekor, das noch die Welt der Schönen Müllerin 1823 verziert und die scharfen Schneiden der heißen, aus dem Überschwange tödlichen Liebe abschleift und rundet, ist dieser Zyklus frei, die Zeit und die Verzweiflung haben das warme Fleisch von den Zeilen geschält, und die Höhen ebenso abgeschliffen wie die weichen, ziehenden Melodien. Hier bindet kein schönes, grünes Band den Wanderer mehr an die Oberwelt: Nackt, aus leeren Augenhöhlen, lacht der Tod seiner Beute ins Gesicht.

Will er umkehren? Träumt er sich noch einmal zurück in die warmen, grünen Auen, ins Dur des Frühlingstraums? Hier wird kein Frühling mehr, hier schickt das barmherzige, warme Leben keinen Brief mit der Post, und ganz vergeblich fragt der aus der Welt Gewiesene, wann endlich er sein Liebchen im Arm hält: Nimmermehr, denn so krächzen die Raben, die die Singvögel nicht sind, von denen einer noch träumt.

Längst sind die Tränen zu Eis geworden, und hinter dem Wanderer schließen sich die Wege. Längst ziehen und locken die Zweige des Lindenbaums in den Frieden, und in dem scharfen, in seiner Schönheit schmerzhaften Gesang der Brigitte Fassbaender, in der scheinbaren Süße der Mitsuko Shirai hat der Tod schon die Augen aufgeschlagen und auf allen Wegweisern geht es zum Hades. Gnade sagt man jenem nach, der denen, denen er wohlwill, die Sinne verwirrt, aber es leidet, so schneidet es die Musik in die mitleidigen Ohren, der Wanderer auch an jenen drei Sonnen, die am Horizont erscheinen, als es schon fast dem Ende zugeht. Schon hat der Tod den Willen des Ermüdeten überwunden, schon ist nicht mehr die Rede von Blumen, wenn´s auch Eisblumen sind, schon ist die Liebe zu einer, die sich als Wetterfahne erweisen sollte, kein Ort mehr, der auch nur wirklich wäre. Das Obdach, das eine barmherzige Seele noch gewährt, vermag nicht mehr zu halten und zu heilen, der Totenacker, auf dem die grünen Kränze locken, zieht den Wanderer, und so lockt ein Licht schließlich den Wanderer dorthin, wo jedem einmal sein Gott gegenübersteht, und es ist doch dieser Hermes Psychopompos so erbärmlich wie einer nur sein kann, der doch ein Göttlicher ist, wenn auch barfuß und verlacht.

Schüchtern, sagt man, sei Schubert gewesen, und so tastend, wie wohl ein Ungeliebter, spricht sein Wanderer den Leiermann schließlich an und wird ihm folgen, wenn die Musik verstummt, und uns zurücklässt mit jenem mitleidigem Schmerz, dass nicht einmal der Tod ein sanftes Mädchenantlitz trägt, den Frieden der Abwesenheit auf die Lider zu senken, die die Krähen aus den Lindenzweigen fressen, und benommen, ermüdet von dem fremden Tod, verlassen wir den Saal, und es mag ein bißchen dauern, bis die Welt wieder warm und wirklich scheint.

(Mit Dank an Frau Sopran)


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