Sonntag, 6. August 2006

Nur die Nerven

„Nicht gut.“, sagt sie, und ich schäme mich ein bißchen für mein wochenlanges Schweigen. Krank geschrieben sei sie. Nein, nichts Ernstes, auch eher nichts – Körperliches, wenn ich verstehe, was sie meint. Ich nicke etwas unsicher, überlege einen Moment, bevor ich frage, aber sie schüttelt den Kopf und lächelt ein wenig verlegen das Törtchen an, das halbgegessen auf ihrem Teller liegt. Nein, sagt sie, krank sei sie eigentlich nicht, ihr Arzt hätte gemeint, es sei vielleicht besser. Vielleicht sei sie nur erschöpft, und wenn sie ein wenig schliefe, einfach mehr schliefe, acht Stunden jede Nacht oder mehr, füge sich vielleicht alles wieder von selbst.

Eine Ursache könne sie so konkret gar nicht benennen. Vielleicht der Abend im Kollegenkreis, als sechs Paare auf der Terrasse des neugekauften Hauses saßen, dass sich ihr Kollege D. gekauft hatte, in den sie ja einmal sehr verliebt gewesen sei, und nur sie war allein gekommen. „Ist sicher nicht leicht, die meisten Männer haben Vorurteile gegen Karrierefrauen.“, hatte die Frau des D. das Fehlen einer männlichen Begleitung mitfühlend kommentiert, nach dem Essen in der Küche, und sie hätte genickt und geschwiegen, weil die Frau wahrscheinlich recht hatte. Die Frau war Erzieherin gewesen, und der D. hatte am Ende die Frau geheiratet, und für sie hatte es nur zu einer Affäre gereicht, damals vor drei Jahren.

Vielleicht war es aber auch das Wochenende, an dem ihre Mutter nach Berlin kam. Sehr klein stand ihre Mutter auf dem Bahnsteig am Ostbahnhof, und fror die ganze Zeit, obwohl es Juni war. Von den Enkeln der Nachbarn hatte ihre Mutter gesprochen, und die jüngste Tochter der Nachbarn habe das Haus gegenüber gekauft und sei Apothekerin am Ort. - Dass es schwierig sei mit Kindern in ihrem Job, hatte sie der Mutter entgegnet, und dass ihr Job ihr wichtig sei. So viele Absolventen würden von ihrem Job träumen, die keine Kinder hätten und viel Zeit. – „Ist dein Job dir wichtiger als Familie?“, hatte ihre Mutter sie gefragt, in einem Ton, als sei sie krank, und sie hatte gelogen und gesagt, so sei das nun einmal. Am Abend schlief ihre Mutter in ihrem Bett, ihres Rückens wegen, und sie lag auf der zu kurzen Couch im Wohnzimmer und sah an die Decke. Von allen vier Ecken des Raumes lächelten dicke Puttenköpfe, und sie dachte daran, dass sie niemals geglaubt hatte, einmal allein zu bleiben.

Oder es war der Abend, an dem sie fast ihren Job hingeworfen hätte. Ob’s ein Fehler von ihr war, oder ihr Chef einfach nur glaubte, es sei ihr Fehler gewesen – spät am Abend kam sie weinend heim, und stolperte in ihrer dunklen Küche über ein paar herumstehende Glasflaschen, schnitt sich an den Scherben den Fuß und musste ins Krankenhaus. Der herbeigerufene Taxifahrer wollte sie nicht fahren wegen der Blutflecken, und anrufen mochte sie niemanden mehr um diese Zeit. Mit einem Handtuch um den Fuß ging sie zu Bett.

An einem Morgen vor zwei Wochen konnte sie nicht mehr aufstehen. Nur noch liegenbleiben wollte sie, die Augen schließen, eine große, weiche Abwesenheit, und selbst zum Weinen reichte die Energie nicht mehr aus, die sie bis ins Büro hätte tragen müssen. Auch im Büro anrufen konnte sie nicht mehr, nicht zum Arzt gehen, damit sie irgendwelche Tabletten bekäme, und so lag sie stundenlang einfach auf dem Rücken, vollkommen leergeräumt, und ab und zu klingelte das Telefon, weil ihr Chef wissen wollte, wo sie blieb.

Am Abend stand kein Mann vor der Tür und keine Freunde. Nur ihr Chef klingelte so lange, bis sie öffnete. Er habe sich Sorgen gemacht, sagte er. Alleinstehende könnten ja leicht einmal in der Badewanne ausrutschen, Beckenbruch, und dann fände sie ewig keiner. Schwankend stand sie im Türrahmen, so bleich, dass ihr Chef sie ins Bett schickte, und verschwand mit den Worten, bis zum Wochenende wolle er sie im Büro nicht mehr sehen.

Zwei Tage blieb sie einfach im Bett, duschte nicht und aß nichts, und schließlich hatte sie genug Energie angespart für einen Telefonanruf. Auf den Anruf kam eine Freundin, die brachte sie zum Arzt. Die Freundin lachte viel, um sie aufzumuntern, sprach von ihrer Hochzeit und legte, als sie ging, einen Stapel Frauenzeitschriften aufs Bett. Zur Zerstreuung. „Wie sie IHN verrückt machen“, stand auf einem der Cover.

Es seien bloß die Nerven, hatte der Arzt ihren Zustand kommentiert. Sie arbeite wahrscheinlich zuviel, sagte er, maß ihr den Puls und leuchtete ihr in die Augen. Dann schickte er sie heim und verschrieb ein paar Medikamente. „Haben sie jemanden, der auf sie aufpasst?“, fragte der Arzt. Es sei nicht gut, allein zu sein, wenn es wieder schlimmer würde.

"Und was raten sie mir, wenn da keiner ist?", fragte sie fast, aber dann nickte sie doch und ging nach Hause.



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