Dienstag, 5. September 2006

Auf der Freude sanftschimmernden Wellen

„Wir gehen ins Wasser,“, sagt mein Vater, fasst meine Hände und hebt mich auf seine Füße. Durch die Äste der Weiden, die den See grün verhängen, waten wir tiefer, bis das Wasser mir bis ans Kinn reicht. Mein Vater wirft mich hoch, fängt mich wieder auf, dass das Wasser spritzt, und ich halte kurz die Luft an, um zwischen seinen Beinen durchzutauchen. „Mach das Walross!“, kreische ich, und mein Vater wirft sich ins Wasser, das die Tropfen bis in die Zweige der Bäume spritzen, und funkeln in der weißen Junisonne wie der Glitzergürtel meiner Mutter, den ich manchmal umbinden darf, wenn sie sich schminkt.

„Kuck mal!“, rufe ich dem Walross zu, und schlage mit den Armen auf das Wasser, dass es spritzt wie der Springbrunnen im Kurpark. „Nicht ins Tiefe“, zieht mein Vater mich zurück, hebt mich auf seine Schultern und springt in die Höhe. Auf dem Rücken meines Vaters darf ich sitzen, der ein paar Meter hin und her schwimmt. „Jetzt bist du ein Seepferd!“, feuere ich ihn an, und mein Vater wiehert ein bißchen, wie es die Seepferde tun, wie er mir versichert.

Der Herbst aber verschließt die Pforten des Wassers. Verzaubert, abgeriegelt durch die Spinnweben, die die Feen des Nachts über das Wasser spannen, schläft der See und träumt goldene Träume, müde fließend, und die Blätter der Weiden kreisen versonnen an der Oberfläche, um langsam zu versinken. Der kalte Nöck, von dem mir mein Vater vorgelesen hat, wandert auf dem Grund des Sees herum und baut sich aus ein Haus aus den Ästen, die die Herbststürme von den Bäumen reißen, und legt sich schließlich zur Ruhe unter einer Eisdecke, die eines Morgens, eine zarte Membran, den See überspannt. - Nicht aufs Eis gehen, warnen die Erwachsenen, denn unter der Oberfläche ist der Wassermann hungrig, wenn er erwacht, und hat seine Fallen schon gestellt. Kinder würde er verzehren, flüstert die Nachbarstochter mir zu, wie er schon den Hund der dicken Lehrerin gefressen hätte, der eines Morgens über den Zaun gesprungen war und im See ertrank.

Erst, wenn das Eis knackt und stumpf wird, wenn die Kälte länger als drei Wochen währt, ist der Riegel dicht genug, der den Wassermann verschließt. Knurrend, aber sicher verwahrt unter dichtem Eis muss der Nöck zuschauen, wie mein Vater die Schlittschuhe mit Speck abreibt und mich vorsichtig an beiden Händen auf den See führt. „Einen Fuß nach dem anderen!“, ermahnt er mich und lässt mich vorsichtig los. Weiter zur Mitte des Sees laufen die Großen, die schon zur Schule gehen, und werden so schnell, wie ich es mit dem Fahrrad noch nicht bin, obwohl die Stützräder abgeschraubt sind. Ab und zu heben sie sogar ein Bein hoch, drehen sich und schießen im Zick-Zack an mir vorbei. - „Dass will ich auch!“, zeige ich auf ein Mädchen, das besonders gewandt über das Eis gleitet. „Wenn du größer bist.“, tröstet mich mein Vater und hebt mich auf, wenn ich wieder und wieder ausgleite. Es gebe Bratäpfel, reibt er mir die Hände, die trotz der Handschuhe rot und kalt werden, und zieht mich vom Eis und nach Hause.

Die Pirouetten aber werde ich niemals drehen, immer falle ich um, und eines Tages packt auch noch der Wassermann seine Sachen und hinterlässt das Wasser leer. Mein Vater, sagt er, geht nur noch selten schwimmen, und ich war den ganzen Sommer lang nicht am See, bis nun der Herbst die Blätter auf die Straßen fegt, und nur die Spinnweben bleiben.



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