Samstag, 25. April 2009

In kalten Träumen

Manchmal bei Nacht gerät man in solche Welten. Es ist immer dunkel, fahl, die Sonne nicht sichtbar, und die Menschen scheinen - wie soll man es ausdrücken - durchtränkt von einer schwärzlichen Flüssigkeit. Die Welt überhaupt ist seltsam entfärbt. Der Traum hat Zeit und Raum die Richtung gestohlen; alles passiert gleichzeitig, und so verwundert es nicht, wenn in diesem düsteren, machtvollen Roman gleichzeitig der Römer Cotta nach Tomi reist, die eiserne Stadt am Schwarzen Meer, den verbannten Dichter Ovid zu suchen, und ein Filmvorführer dort eintrifft, in Mikrophone gesprochen wird, und ein Deutscher von den friesischen Inseln hängengeblieben ist hier am äußersten Rand des römischen Imperiums in einem großen Krieg.

Verformt, nein: sich verformend, scheinen die Bewohner Tomis. Was mit ihnen geschieht, geschieht vielleicht aufgrund oder aber vielleicht auch so wie es der verschollene Ovid aufgeschrieben hat, auf lauter kleine, wehende Fahnen, denn alles verwandelt sich hier, alles wird etwas anderes, Menschen versteinern, werden überlebensgroß und mythisch, das Stumme ist beredt, die Literatur webt die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit atmet die scharfe Luft jener Träume, in denen ein Mensch ein Wolf sein kann mit Haaren und Klauen, ein Dorfbewohner ein trauriger König, und jeder eines anderen Haut tragen kann, weil es in dieser Welt keine Unterschiede gibt, die nicht beizeiten verschwimmen.

En passant erzählt Christoph Ransmayr eine kleine Liebesgeschichte, sehr am Rande, zwischen Cotta und der stummen Echo. Eine Menge Geschichten werden so referiert, verwandelt nicht nur gegenüber den wehenden, verlassenen Skripten von Tomi, sondern auch (denn wir alle sind Teil der Handlung durch unser Wissen) gegenüber den Metamorphosen, dieser großartigen, unbescheidenen Dichtung, die wirklich und mehr als andere aere perennius aufgeschrieben und behalten worden ist bis in unsere spätesten Tage.

Ein postmoderner Roman sei Die letzte Welt, entnehme ich den Quellen im Netz. Was auch immer das bedeuten mag, diese Leerformel von der Postmoderne, die nicht mehr besagt, als das etwas vorbei ist, und etwas Neues noch nicht begonnen hat: Zu lesen lohnt es sich sehr, dieser Roman über die Wandlungsfähigkeit aller Verhältnisse, erst recht und in erster Linie sogar derjenigen, die wir für unabänderlich halten, weil der Verlust unserer selbst uns ängstigt und schreckt, mag auch die Erde beben.

Christop Ransmayr
Die letzte Welt
1988



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