Freitag, 5. Juni 2009

Journal :: 05.06.

Einfach so und vorwarnungslos kippe ich um. Es ist morgens, viertel vor acht. Als habe jemand das Licht ausgeschaltet, wird es dunkel. In meinem Hinterkopf sammelt sich alles Schwere an, was ich in mir trage, und reißt mich zu Boden. Ein paar Sekunden später wird es dann wieder hell. Auf dem Boden sitzend robbe ich aus dem Bad wieder zu Bett. Ich bin schweißnass.

Ins Büro fahre ich heute nicht. Ich rufe an (oh, das Sprechen ist mühsam), es werde zumindest später, und dann schlafe ich auf der Stelle ein. Ich habe gestern weder viel getrunken, noch etwas gegessen, das diesen Zustand erklären könnte, ich war auch nicht später im Bett als sonst, aber als ich wieder erwache ist es mittags um zwölf. Auf dem Nachttisch sitzt mein Kater und schaut mich unverwandt an.

Eigentlich geht es mir ganz gut, aber gut ging es mir auch heute morgen. Ich vertraue meinem Wohlbefinden nicht mehr, denn was, frage ich mich, würde wohl passieren, säße ich auf einem Fahrrad, wenn die Verdunkelung erneut einsetzte? Falle ich dann auf die Schönhauser Allee und bin tot? Auf der anderen Seite nützt es nichts, sich nun ins Ungefähre zu schonen, und so rufe ich wieder im Büro an. Man möge mir meine Akten schicken, sage ich und warte.

Ganz perfekt ist die Lage noch nicht, stelle ich später fest. Der Weg die Treppe abwärts ist rutschig und steil heute mittag. Beim Einkaufen gegenüber bedrückt mich auf einmal die viele leere Luft zwischen mir und den Wänden. Als ich wieder zu Hause bin, lege ich mich erst einmal wieder hin. Dann kommt der Bote.

Es geht mir ganz ordentlich, so ab heute nachmittag. Ich arbeite und komme voran. Vielleicht geht es sogar etwas besser als im Büro, wo immer jemand anruft, vorbeikommt oder per Mail schnell etwas abstimmen will. Ich arbeite mit einer Tasse Tee auf dem Schreibtisch, die Katze auf dem Schoß, und als der J. kommt, fühle ich mich fast wie immer. "Lass uns was essen.", sage ich und schleppe den J. bis zum Helmholtzplatz. Chirashi-Don bestelle ich, eine California Inside Out und einen Nachtisch.

Ich bin wieder fit, sage ich dem J. und mir und spüre der Schwärze hinterher, die so plötzlich gekommen und verschwunden ist. Vielleicht aber hat sie sich nur versteckt, misstraue ich dem Frieden dieses kühlen Abends. Vielleicht streicht mir die Dunkelheit schon um die Rippen, vielleicht tut es mir leid in drei Wochen oder drei Jahren, heute nicht zum Arzt gegangen zu sein, aber hingehen werde ich nicht.

Es wird schon nichts sein.

Journal :: 04.06.

Nein, sage ich und schiebe mir ein weiteres Stück Rumpsteak in den Mund. Clemens Meyer hat mich nur sehr bedingt beeindruckt. Ich mag die oft derbe Sprache nicht so besonders, auch wenn die stilistische Gesamtkomposition alles in allem nicht unstimmig ist. Da ist schon was. Die einzelnen Geschichten dieses viel zu langen Romans um ein paar kleinkriminelle Jungen in der Leipziger Nachwendezeit sind auch teilweise nicht schlecht. Es kostet mich aber eine derartige Mühe, Interesse für die eher etwas randständigen jugendlichen Protagonisten aufzubringen, dass ich das Buch fast weggelegt hätte.

Nun gilt es ja als wünschenswert, sich für alles Menschliche zu interessieren. Man soll niemanden für seine ungepflegte Sprache, seine ungepflegten Träume oder sein ungepflegtes Äußeres verurteilen. Um 500 Seiten Papier zu lesen, reicht die Unterwerfung unter dieses gesellschaftliche Gebot der Vorurteilslosigkeit aber nicht aus, und da bieten mir Jugendliche, die sich prügeln und betrinken und zu grob sind, als dass ich sie gern bei mir zum Essen einladen würde, zu wenig Identifikationsfläche. Ich will nun nicht jeden Romanhelden lieben. Der Bel Ami ist ein grässlicher Kerl. Dostojevskijs Spieler ist fürchterlich in seiner Getriebenheit, und auch ein Sonnenkind wie Thomas Manns Joseph kann realiter schrecklich nerven. Eine Seite meiner selbst sollte aber auch ein abscheulicher Romanheld zum Klingen bringen, wie lächerlich dieser Wunsch auch sein mag, und in diesem, ganz und gar subjektiven Punkt sind mir die Gestalten Clemens Meyers so fern wie der Mars und so egal wie der Finanzminister.

Das ist kein schlechtes Buch, sage ich. Aber es hat mich nicht interessiert.

Clemens Meyer
Als wir träumten
2007



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