Sonntag, 15. November 2009

Vor dem Herren beider Länder (1981)

Am Anfang bin ich fast sechs. Ich sitze im Garten auf der Schaukel, der Apfelbaum blüht, blüht, blüht, und ich schwinge immer höher dem Himmel entgegen, bis ich falle und schlage mit dem Kopf auf den Gehwegplatten auf. Ich schreie und blute. Im Krankenhaus werde ich nur ein bißchen betäubt und genäht. Vor Schmerz verschwimmt die Welt zu einem Brei aus Lärm, Putzmittelgestank und einem bösen, grellen Weiß. Ich soll ein großes Mädchen sein, sagt ein junger, strenger Arzt, der mich anschaut, als sei ich nicht nett, sondern nur dumm und lästig. In mir zieht sich alles zusammen, aber ich schweige und atme und weine fast gar nicht.

Als wir das Krankenhaus verlassen, zittert mein Vater viel mehr als ich. Noch immer tapfer laufe ich an seiner Hand die Böschung abwärts zum Parkplatz, reiße selbst die Wagentür auf, aber ich das ganze Blut auf den Sitzen sehe, drehe ich mich um und erbreche in den hellen, gelblichen Kies. Mein Vater lehnt ausgepumpt am Wagen und hält mir den Kopf. Ich würde das Piratenschiff bekommen, verspricht er, wenn alles wieder gut sei. Soft Ice soll es auch geben, das bekomme ich sonst nie. Auch nach Hamburg ins Museum dürfe ich mit, fährt er schwere Geschütze auf, damit ich wieder lache, und würde mehr Gold sehen als je in meinem Leben zuvor. Götter und Könige warten auf mich, hebt mein Vater mich sorgsam auf den Beifahrersitz und fährt ganz langsam an.

Am Sonntag stehen wir vor dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Ich habe noch einen Verband am Kopf, aber sonst geht es mir wieder ganz gut. Vor dem Museum waren wir bei meinem Onkel T., der mit seiner wunderschönen Freundin in Hamburg-Eppendorf wohnt. Ich bin gespannt: Ich war noch nie hier. Nur einmal war ich bisher in einem anderen Museum bei uns zu Haus und habe die Knochen des Sauriers in echt gesehen, der in meinem Was-ist-Was-Buch riesengroß und völlig unglaublich abgebildet ist. Ich kenne alle Saurier mit Vor- und Nachnamen und kann alle Erdzeitalter fast fehlerfrei aufsagen, wenn man mich fragt.

Vor und hinter uns stehen viele, viele Leute. Die Ausstellung ist ein großer Erfolg, wie ich später erfahre. Ich bin zappelig. Zur Vorbereitung habe ich noch am Tag des Unfalls ein weiteres Was-ist-Was-Buch bekommen, eins über Ägypten, und ein anderes Buch, in dem es um einen Jungen geht, der Nechebu heißt, und den das Gedächtnis aufbewahren wird über fast zwanzig Jahre. Ich habe ein rotes Kleid mit weißem Kragen an, das meine Mutter für die Einschulung gekauft hat, und auf die ich mich unsagbar freue, bis dann doch die Rektorin meine Mutter überreden wird, mich zurückzustellen, aber das ist noch sechs lange Wochen hin. Lackschuhe habe ich an, auf die ich stolz bin, und werde von meinem Vater wieder und wieder photograhiert.

Im Museum ist es dunkel und kühl. Eng an meinen Vater gepresst laufe ich von Vitrine zu Vitrine. Auf Kissen oder schwarzen Quadern stehen und liegen kostbare Möbel aus Gold und Holz, uralter Lotos wiegt sich am Nil, irgendwo ragt ein Hundekopf auf, und vor den Särgen stehe ich mit offenem Mund stumm in der ersten, vergoldeten Faszination vor dem Sterben und beeindruckt von der Schönheit, der leuchtenden Perfektion einer Kultur von der ich kaum mehr weiß, als dass es sie nicht mehr gibt. Mein Vater erklärt mir einzelne Exponate mit dem Katalog in der Hand, aber was weiß ich schon von den Wirren der Amarnazeit, was von Restauration und Stilen: Pracht sehe ich, etwas ideal Entrücktes, und dass menschliches Fleisch einmal in diesen Hüllen lag, ist mir so unvorstellbar wie das Zittern der Erde unter den Hufen des Triceratops.

Eine Postkarte bekomme ich am Ausgang mit der Maske Tut-Ench-Amuns auf dunklem Grund und an der Hand meines Vaters werde ich zum Wagen zurückgeführt.

(Es folgt: 1986)



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