Donnerstag, 18. November 2010

Journal :: 16.11.2010

Der erste Schirm

Morgens gehe ich also aus dem Haus. Das Wetter ist ganz erbärmlich, das Wetter könnte kaum schlechter sein, und weil ich zur Zeit nicht Rad fahre, sondern Trambahn, brauche ich einen Schirm. Ich nehme also einen der Schirme, die ich ab und zu bei Rossmann kaufe, aus der Garderobenschranktür und laufe los. Ich muss zu einer Veranstaltung in der City West. Es ist draußen kalt und nass und fürchterlich. Es ist auch den ganzen Tag ziemlich dunkel.

Ich bin außerdem ziemlich spät dran. Ich bin meistens zu spät, ich bin nicht so gut im pünktlich irgendwo Ankommen, und deswegen habe ich es immer ein bißchen eilig. Ich laufe also auf meinen hellbrauen Pumps hinter der Straßenbahn her, ich recke mich ein bißchen, weil die Türen sich schon langsam schließen, und dann strecke ich den Schirm nach der Trambahntür aus. Es blinkt schon Aufbruch.

Die Tür soll wieder aufgehen wegen des Schirms, stelle ich mir vor. Türen von Bahnen schließen ja nicht, wenn irgendetwas dazwischen klemmt wie ein Kinderbein oder so, aber eine Tür kann ein Kinderbein von einem Schirm anscheinend gut unterscheiden, denn die Trambahntür schließt, mein Schirm ist eingeklemmt, und dann fährt die M 4 einfach los. Unbeschirmt warte ich auf die nächste Bahn. Ich werde nass.

Der zweite Schirm

Es ist 18.00 Uhr. Die Veranstaltung am Kudamm ist zu Ende, ich fahre zurück ins Büro, aber zwischen dem Tagungshotel und dem Bahnhof liegen bestimmt 300 Meter. Ich schaue mich um. Der Wagenservice hat Schirme, ich will mir einen Schirm leihen und bringe den Schirm ganz bestimmt in den nächsten Tagen zurück. Andernfalls schickt mir das Hotel sicherlich auch eine Rechnung. Ich trete also auf den Service zu. Ich frage nach dem Schirm, ich erläutere meine Rückführungsabsichten und strecke die Hand nach dem Schirm aus.

Der Wagenservice sieht mich einen Moment ratlos an. Dann erwacht in ihm das Misstrauen. Ich sehe vielleicht aus wie eine ganz seriöse Person im Kostüm und mit einem blauen Mantel. In Wirklichkeit aber, in Wirklichkeit bin ich ein loser Vogel, unzuverlässig und nie und nimmer bereit, einen Schirm zurück zu erstatten, und so krallt sich eine riesige Hand um die Schirme und eine Stimme bellt. Ich bekomme keinen Schirm. Unbeschirmt warte ich auf die nächste Bahn. Ich werde nass.

Der dritte Schirm

Am Alex steige ich aus. Lauter Leute laufen hin und her zwischen S-Bahn und U-Bahn und Tram und fahren nach Hause. Ich aber habe zu tun. Ich fahre noch einmal zu mir ins Büro.

Das Büro ist nicht direkt neben der S-Bahn. Ich laufe von der Bahn bis zur Tür ganz bestimmt zehn lange Minuten. Wenn es regnet, ist das eine Menge, und so laufe ich direkt aus der Bahn zu dm und kaufe hier einen Schirm. Es ist ein blauer Knirps. Weil ich schon einmal da bin, kaufe ich noch Shampoo und Handcreme und kleine Dinkelbrezeln in Tüten.

Auf dem Weg ins Büro laufe ich unter dem Schirm und werde nur von den Knien abwärts ganz nass. Im Büro liegt der Schirm aufgespannt im Treppenhaus und tropft ab. Zwei Stunden später, so ungefähr, fahre ich den Rechner runter, schließe die Tür ab und gehe zur Bahn.

Auf dem Weg zur Bahn überholt mich ein Fahrrad. "Pass doch auf!", entfährt es mir, als der Radfahrer mich gefährlich nah streift. "Selber Schnauze!", brüllt der Radfahrer, der offenbar etwas aggressiverer Natur zu sein scheint, dabei habe ich gar nichts dergleichen gesagt. Ich verstumme.

Normalerweise ist im Umgang mit Gestörten entschlossenes Schweigen immer eine gute Sache. In diesem Fall erbost aber mein Schweigen den Radfahrer noch viel mehr. Wütend hebt er die Hand und schüttelt die Faust gegen den Himmel, und dann streckt er die Hand aus, zieht einmal kräftig an meinem Schirm und schleudert ihn in hohem Bogen auf die Schönhauser Allee. Entgeistert starre ich dem Schirm nach. Zerschmettert liegt der Schirm unter den fahrenden Autos.

Unbeschirmt warte ich auf die nächste Bahn. Ich werde nass.



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