Die gläserne Stadt
Über Nacht aber ist die Luft dichter geworden als du. Massiv drückt dir der Sauerstoff von innen und außen gegen das Fleisch und schmerzt beim Atmen, als zögest du Steine scharfkantig durch deine Lungen. Schau mich nicht an, brüllst du aus Angst den fremden Leuten in der Tram nur in Gedanken entgegen. Würdest du laut, die Fremden würden dir noch tiefer ins Fleisch starren, noch schärfere Blicke werfen, und dir die Haut zerschneiden mit der Kraft ihrer Augen. Da sitzt du dann, und die M 1 fährt dich nach Mitte.
Die Stadt scheint dir seltsam entfärbt. Jemand hat etwas aus den Gesichtern der anderen Kunden bei Dussmann entnommen. Das, was du sehen kannst, scheint dir sonderbar leer. Wie immer reichen die Fremden Bücher über die Theken und nehmen Tüten zurück, als sei das normal, aber du weißt Bescheid. - „Da wünsche ich ihnen viel Spaß beim Lesen!“, lächelt der Kassierer und macht sich Notizen. Wenn du weg bist, weißt du genau, wird er melden, was du gekauft, und wann den Laden verlassen.
An der Mittelstraße stolpert eine fremde Frau mit zerschlissenen Tüten betrunken oder behindert den Linden entgegen. Das bist ja du, erschrickst du und wechselst die Seite. Mit kaum maskiertem, gierigem Blick sieht dir die Trunkene nach. Für heute bist du entkommen. „Was haben sie mit mir vor?“, könntest du fragen, aber die Frau ist schon weg. Ganz normal, ohne Fallen und Stolpern, weißt du, schreitet die Fremde fern deiner Blicke die Straße entlang.
Wenn keiner da ist, lachst du ein bißchen, und stößt mit dem Fuß eine leere Verpackung die Straße entlang. Ob man dich prüfen will, durchblätterst du deine Gedanken. Ob die Stadt echt ist, oder eine Attrappe, und die wirkliche Stadt lebt und lächelt fernab von dir, hinter Glas, hinter Stäben, hinter einer Wand vielleicht, getrennt und unerreichbar für dich, warum auch immer.