Niemals wäre
"Ganz gut", sage ich Schwesterchen, und lasse mir von ihrem Urlaub erzählen. Es scheint schön zu sein, dort am Meer, sonnig, und Schwesterchen schickt mir ein Photo aufs Handy, auf dem sie hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt lacht, dass die Zähne blitzen.
Unverschämt gesund sieht Schwesterchen aus, so schlank, wie ich niemals sein werde, und so lebendig, wie ich mich nicht einmal fühle, wenn ich keinen Heuschnupfen habe. Von Herzen beneide ich Schwesterchen um diese ungeheurliche Vitalität und schaue aus dem Fenster meines Büros über den Teil von Mitte, der nicht so besonders posh ausschaut, sondern eigentlich nur ein bißchen abgewrackt und schäbig. Auf meinem Tisch liegen rund zehn Kilo Papier.
"Du musst ans Meer!", empfiehlt Schwesterchen und erzählt irgendetwas Belangloses über Delphine und Surfer, und ich schaue dem kleinen, länglichen Rechteck beim Auf- und Abtauchen zu, das anzeigt, dass mir jemand E-Mails geschrieben hat und auf Antwort wartet. Mir läuft die Nase. Dann lege ich auf.
Ans Meer würde auch ich gern fahren, male ich mir die Wellen aus und das Salz und die Endlosigkeit des Himmels. Delphine brauche ich nicht, aber Sonne wäre schön, Gelächter im Hintergrund, klirrendes Eis in Gläsern und lachen würde auch ich, eine Sonnenbrille würde ich tragen, aber so lachen wie Schwesterchen würde ich nie, nie wäre ich so lebendig, so strahlend, so ganz und gar dem Augenblick anheim gegeben und wehend im warmen Wind wie Fahnen in leuchtenden Farben.