Über Bücher

Donnerstag, 23. Februar 2012

Vom Paradies

Christian Kracht, Imperium

Es ist doch alles da, wenn Sie des Nachts erwachen. Was Sie im satten Schein der Nachttischlampe vom Bett aus sehen, zeugt von Ihrem Geschmack und (wozu dies beschweigen) von Ihrem Geld. Sie sind gesund und haben keine Schmerzen. Der Mensch, der neben Ihnen schläft, liebt Sie und sieht - bei aller Intelligenz - auch noch gut aus.

Wenn Sie an den nächsten Tag denken, spüren Sie weder Furcht noch Ärger. Doch denken Sie an das nächste Jahr, ach: an das nächste Jahrzehnt, so spüren Sie eine leichte, eine kaum wahrnehmbare Beklemmung, der Schatten eines Gefühls mehr als ein Gefühl selbst, und Sie schelten sich für dieses Missbehagen, für das es keinen Anlass gibt, denn voraussichtlich geht es Ihnen auch in zehn Jahren blendend.

Das Gefühl aber - das wissen Sie - wird nicht weichen. Sie werden erwachen, morgen früh, übermorgen, irgendwann in Ihrem Leben, und wissen, dass irgendwo in der Mitte Ihrer Welt ein schwarzes Loch klafft, der Eingang zu einem dunklen Kanal in die Mitte des Nichts, und alles, was Sie ausmacht, nur Girlande ist und sinnlose Verzierung, denn das Loch ist das Eigentliche und alles andere ist nichts.

Ein Geringerer als Sie würde nun verzweifeln und Erlösung suchen in Schönheit oder Kunst, würde sehr religiös oder ginge zumindest viermal die Woche zum Yoga und würde Anhänger der Eigenurintherapie. Sie aber sind klug. Sie wissen, dass nichts auf Erden uns rettet, und alles Streben nach Unsterblichkeit, nach Glück und Auflösung in einem höheren Sein scheitern wird, nur scheitern kann, und das Schicksal dem Scheiternden meistens nicht einmal Tragik und Würde bereitstellt, weil es kaum etwas gibt, was lustiger ist als jemand, der auf den Bananenschalen ausrutscht, die auf dem Weg ins Paradies auf den Wanderer warten.

Abgeklärt, wie Sie sind, lehnen Sie sich zurück in Ihre ganz sicher sehr bequemen Kissen und belächeln gern die Irrläufer der Suche nach dem Heiligen Gral. Herrn August Engelhardt etwa – dessen wohl teilweise wahre Geschichte Christian Kracht uns in seinem vierten Roman erzählt – erfreut Sie deshalb ganz und gar mit seinem Plan, ein Reich der Glückseligkeit auf einer Südseeinsel zu errichten, auf der seine Jünger und er nackt und friedlich sich ausschließlich von Kokosnüssen ernähren sollten, um so unsterblich zu werden.

Als ein Realist durch und durch wundern Sie sich nicht, dass aus dem Plan nichts wird. Engelhardt wird (natürlich, denken Sie und verziehen mokant das Gesicht) nicht glücklich und gesund, sondern verwandelt sich durch die jahrelange Mangelernährung in einen paranoiden, antisemitischen, leprakranken, regredierten Kannibalen. Auch aus der Schar von Jüngern, die Engelhardt sich vorstellt, wird nichts, denn die wenigen Anhänger, die es bis zu seiner Insel Kabakon schaffen, enttäuschen Engelhardt, und die Anhänger, die in der Kolonialhauptstadt hängen bleiben, führen schließlich dazu, dass der Gouverneur der Kolonie Engelhardt loswerden will und – wenn auch erfolglos – seine Ermordung beauftragt.

Auch der Erzähler selbst, so erscheint es Ihnen, teilt Ihre Ansicht über diejenigen, die wie Engelhardt versuchen, der Unerlösbarkeit der Welt mit ungeeigneten Mitteln zu entkommen. Elegant zurückgelehnt, gelassen plaudernd mit allen Mitteln des großen Romans des letzten Jahrhunderts, erzählt Kracht von diesem Kammerspiel des deutschen Welttheaters, als habe es die stilistischen Aufgeregtheiten des letzten halben Jahrhunderts nie gegeben. Heiter erscheint Ihnen dieser Erzähler, von einer sonnig-entspannten Ironie, die Sie sanft durch die rund 250 Seiten trägt, freundlich und bar jener Verzweiflung über die Unheilbarkeit der Welt, die die ersten Romane des Autors grundierte, und so ziehen Sie sich die Decke noch etwas höher in der besten aller Welten.

Später aber, ganz spät, schon haben Sie das Licht gelöscht und die Augen geschlossen, erschrecken Sie doch. Der Autor hat Sie verraten, erkennen Sie, auf dem trockenen Pfad Ihres Realismus. Nicht vorgeführt, so scheint es Ihnen nun, hat Kracht Ihnen den Irrweg aller Utopisten, die Vergeblichkeit der Erlösung und die Verzweiflung derer, die danach suchen, denn (anders als es in Wikipedia steht), stirbt Engelhardt bei Kracht gerade nicht 1919 vereinsamt und abgemagert an seiner Kokosnussdiät. Noch nach 1945 taucht Engelhardt auf, geheilt von der Lepra, abgemagert, aber lebendig, und auch wenn die Erlösung, auch wenn das Paradies, nicht unaussprechlich dionysische Genüsse bereithält, sondern nur Cola und Hot Dogs und sehr gesunde GI’s: Die Pforten dieses Paradieses immerhin öffnet Kracht seinem traurigen Helden, und mehr Erlösung von Übel und Tod, als Sie sie finden werden, bei Nacht, in Ihrem Bett, in Ihrem soliden Leben und mit Ihren beiden Beinen fest auf dem Boden.

Doch nächtliche Verzweiflung, auch das ist Ihnen klar, haben Sie morgen vergessen.

Montag, 16. Januar 2012

Nichts.

"Nichts!", jammere ich. Alles durchgelesen, was da ist, und die Beschreibung der Neuerscheinungen in der Zeitung reizt mich nicht im Geringsten. Ich war Samstag nacht sogar auf dem Rückweg vom Essen mit der I. und dem S. zum Bus noch bei Dussmann und habe da beim Durchschlendern auch nichts gefunden. Es ist aber auch nicht einfach. Ich interessiere mich nicht für "radikale" Schilderungen von irgendwas oder für Bücher, die einen "ganz neuen Ton" treffen. Das Humorig-Launige allerdings liegt mir auch nicht.

Ich will grundsätzlich nie wissen, wer wen umgebracht hat, und ich interessiere mich ganz ausgesprochen nicht für gesellschaftliche Randgruppen. Ich mag mich nur mit wirklichen Problemen auseinandersetzen wie Haarausfall oder Langeweile oder die Frage, ob man jemanden lieben kann, der nackt komisch aussieht.

Das letzte Buch, das ich ungelesen weggeworfen habe, war von Dietmar Dath. Das letzte Buch, das ich gelobt habe, war gestern abend gegenüber dem liebenswürdigen J. die Autobiographie von Christopher Hitchens. Zuletzt - mit zehn Jahren Abstand - zweimal gelesen habe ich Wilhelm Speyers "Charlott etwas verrückt".

Nun ist mein Nachttisch leer. Mir ist langweilig. Helfen Sie mir.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Dumme Schafe

Vielleicht liegt's an mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch nie einen Mann retten wollte, an dem mir etwas lag, denn ich möchte für nichts und niemanden leiden, ich will Annehmlichkeiten und schöne, weiße Pelze und Sahnetorten und einen Mann, der mir morgens und abends sagt, dass ich zauberhaft sei. Vielleicht bin ich deswegen die falsche Leserin für Katja Müller-Langes Roman "Böse Schafe", der von Soja handelt, die in den Achtzigern aus dem Osten nach Westberlin kommt und sich in den letzten Jahren vor der Grenzöffnung in Harry verliebt, einen Junkie, und dann alles für ihn tut, und er tut nichts für sie.

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Dienstag, 28. Dezember 2010

Madame mag Mosebach

... und hat darüber geschrieben.

Montag, 6. September 2010

Ein jeder Mensch ist ein Abgrund

Ferdinand von Schirach, Schuld, 2010

Es ist eine verbreitete Vorstellung, der Mensch werde gelenkt wie eine Marionette. Irgendwo, unsichtbar, hinter den Kulissen, sitze der Puppenspieler und lasse den einen stolpern, den anderen lachen, zwei jagen einander von rechts nach links, und wenn es dem Puppenspieler gefällt, lässt er einen die Hand heben, und ein anderer bleibt still auf der Bühne liegen. Einen Moment bleibt das Publikum dann betroffen sitzen und schweigt. Im nächsten kommt schon die Polizei, es wird geschäftig, Staatsanwälte klagen an, Strafverteidiger treten auf, und schließlich fällt der Richter ein Urteil. Das Puppenspiel über ein Verbrechen mag vorbei sein, in diesem Moment. Über den Puppenspieler aber haben wir nichts erfahren. Das Verbrechen, den Mord, das Böse, wenn man so will, können wir sehen. Was es ist, sehen wir nicht.

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Sonntag, 29. August 2010

Ein anderer Schlag des Herzens

Irina Liebmann, Wäre es schön? Es wäre schön, 2008

Was in der Geschichte des Kommunismus schief gelaufen ist, ist nicht nur unter Historikern vermutlich ein Gegenstand wüster Diskussionen und klaffender Meinungsverschiedenheiten, doch wie auch immer es dazu kommen, dass aus einer berauschenden Vision von Freiheit, Gerechtigkeit und Völkerliebe am Ende nichts wurde als die engherzige, bisweilen lächerliche und in jeder Hinsicht unangemessene Herrschaft einer verlogenen Bürokratie: Fest stehen dürfte, dass die Realität aus FDJ und Plattenbauten die faszinierende, romantische Seite des kommunistischen Projekts so gründlich aus dem Bewusstsein Europas gebrannt hat, dass selbst die Renegatenromane des 20. Jahrhunderts – die Koestler, Sperber et. al. – uns nichts mehr anzugehen scheinen. Der große Traum ist vorbei.

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Montag, 5. Juli 2010

Paukenschlag statt Flöte

Wolf Jobst Siedler, Ein Leben wird besichtigt, 2000

Vielfach liest man, mit dem Bürgertum gehe es demnächst zu Ende. Die deutsche Sprache sterbe aus, sogar die Frau des Bundespräsidenten sei abstoßend tätowiert, niemand könne mehr vernünftig Latein, und unter Bildung missverstünden die Deutschen eine unverstandene Faktensammlung, die höchstens zu Quizsendungen im Privatfernsehen tauge. Gleichzeitig genießt das Bürgerliche ein Ansehen, das zumindest ein wenig naiv anmutet, als sei vor hundert Jahren jedes Gymnasium eine kleine Gelehrtenrepublik gewesen und nicht die protofaschistische, kinderquälende Anstalt, wie sie sich in den damals vermutlich nicht von ungefähr beliebten Schülerromanen der Kaiser- und Zwischenkriegszeit spiegelt. Auch hätten sich früher Familien zu sorgsam komponierten Mahlzeiten zusammengefunden, statt hektisch vor dem Fernseher erwärmte Tiefkühlgerichte zu verzehren, weder Damen noch Herren wären in missgestalteten, bunten Plastiksäcken auf die Straße gegangen, und Ehen hätten lebenslänglich gehalten. Früher sei mithin nicht alles, aber ziemlich viel besser gewesen, und selbst wenn es nicht besser gewesen sei, dann habe es zumindest besser ausgesehen.

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Donnerstag, 24. Juni 2010

Strahlende Maikäfer, rosenfingrige Götter

Kaspar Schnetzler, Das Gute

Die Schweiz, hört man immer wieder, sei lange nicht so langweilig, wie man landläufig glaubt. Wieso dem so sein sollte, habe ich allerdings vergessen, und wenn die Schweiz in den hundert Jahren von 1912 bis 2012, die dieser Roman des zu Recht ziemlich unbekannten Kaspar Schnetzler, eines 1942 geborenen Züricher Rentners, umfasst, auch nur annähernd zutreffend abgebildet sein sollte, hat auch in dieser Frage der Volksmund recht: Dieses Buch ist langweilig. Es ist aber nicht nur fade. Es ist auch unfassbar schlecht.

Gegenstand der selbst in der Taschenbuchausgabe 552 Seiten fetten Chronik der Züricher Familien Gerber und Frauenlob sind vier Generationen, die nicht unähnlich der Vorgehensweise in didaktisch sehr bemühten Kinderbüchern alles erleben, was der Autor für charakteristisch für die jeweiige Epoche in der Schweiz hält: Die Begeisterung für den deutschen Kaiser. Der Schweizer Nationalstolz und die besondere Beziehung zu den Schweizer Selbstverteidigungsorganen. Die Spanische Grippe. Ein gewisses Sektierertum in Freikirchen (hier der Christian Science), der soziale, wenn auch überschaubare Aufstieg aus dem Kleinbürgertum und die Auswanderung einzelner Familienteile in die USA und Deutschland. Irgendwann wird auch ein Familienmitglied in politische Unruhen verwickelt, verfällt den Drogen, man wird wunderlich, gebiert und stirbt, und ja: Das ist exakt so frei von jeglicher Überraschung, wie es sich anhört.

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Freitag, 21. Mai 2010

Deutschlandbecher

Diesen Text widme ich meinem lieben J.

Für den Grill Royal sprechen insbesondere seine Gegner. Mit einer Versammlung all derjenigen, die das Essen als mittelmäßig, die Gäste als unelegant, das Interieur als abgeschabt und die Tische als zu eng gestellt tadeln, möchte man einen Abend aus verschiedenen Gründen durchaus weniger gern verleben als mit den Menschen, die ganz gern an der Weidendammbrücke essen, obwohl - aber kommt es darauf an? - der größere Teil der Kritik als eigentlich schon eher ziemlich berechtigt gelten muss. Der Service etwa ist immer charmant, aber nur, wenn man Glück hat, professionell. Teuer, zumindest für die insgesamt noch immer bescheidenen Berliner Verhältnisse, ist der Grill auch, und ein nicht ganz unerheblicher Teil der servierten Speisen ist mit der Bestellung ab und zu nicht oder nur teilweise identisch. Auch die Steaks, dies sei hinzugefügt, sind im Filetstück besser.

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Sonntag, 2. Mai 2010

Von der Liebe im Sterben

Feridun Zaimoglu, Liebesbrand

Die Liebe kommt über Zaimoglus Helden David wie ein Hieb: Verletzt liegt der deutschtürkische ehemalige Banker aus Kiel nach einem Busunglück in der Türkei auf der Straße, als eine junge, schöne Frau mit einem auffälligen Ring erste Hilfe leistet und ihn tränkt. David verliebt sich nicht: David fällt in Liebe.


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