Familienalbum

Sonntag, 15. November 2009

Vor dem Herren beider Länder (1981)

Am Anfang bin ich fast sechs. Ich sitze im Garten auf der Schaukel, der Apfelbaum blüht, blüht, blüht, und ich schwinge immer höher dem Himmel entgegen, bis ich falle und schlage mit dem Kopf auf den Gehwegplatten auf. Ich schreie und blute. Im Krankenhaus werde ich nur ein bißchen betäubt und genäht. Vor Schmerz verschwimmt die Welt zu einem Brei aus Lärm, Putzmittelgestank und einem bösen, grellen Weiß. Ich soll ein großes Mädchen sein, sagt ein junger, strenger Arzt, der mich anschaut, als sei ich nicht nett, sondern nur dumm und lästig. In mir zieht sich alles zusammen, aber ich schweige und atme und weine fast gar nicht.

Als wir das Krankenhaus verlassen, zittert mein Vater viel mehr als ich. Noch immer tapfer laufe ich an seiner Hand die Böschung abwärts zum Parkplatz, reiße selbst die Wagentür auf, aber ich das ganze Blut auf den Sitzen sehe, drehe ich mich um und erbreche in den hellen, gelblichen Kies. Mein Vater lehnt ausgepumpt am Wagen und hält mir den Kopf. Ich würde das Piratenschiff bekommen, verspricht er, wenn alles wieder gut sei. Soft Ice soll es auch geben, das bekomme ich sonst nie. Auch nach Hamburg ins Museum dürfe ich mit, fährt er schwere Geschütze auf, damit ich wieder lache, und würde mehr Gold sehen als je in meinem Leben zuvor. Götter und Könige warten auf mich, hebt mein Vater mich sorgsam auf den Beifahrersitz und fährt ganz langsam an.

Am Sonntag stehen wir vor dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Ich habe noch einen Verband am Kopf, aber sonst geht es mir wieder ganz gut. Vor dem Museum waren wir bei meinem Onkel T., der mit seiner wunderschönen Freundin in Hamburg-Eppendorf wohnt. Ich bin gespannt: Ich war noch nie hier. Nur einmal war ich bisher in einem anderen Museum bei uns zu Haus und habe die Knochen des Sauriers in echt gesehen, der in meinem Was-ist-Was-Buch riesengroß und völlig unglaublich abgebildet ist. Ich kenne alle Saurier mit Vor- und Nachnamen und kann alle Erdzeitalter fast fehlerfrei aufsagen, wenn man mich fragt.

Vor und hinter uns stehen viele, viele Leute. Die Ausstellung ist ein großer Erfolg, wie ich später erfahre. Ich bin zappelig. Zur Vorbereitung habe ich noch am Tag des Unfalls ein weiteres Was-ist-Was-Buch bekommen, eins über Ägypten, und ein anderes Buch, in dem es um einen Jungen geht, der Nechebu heißt, und den das Gedächtnis aufbewahren wird über fast zwanzig Jahre. Ich habe ein rotes Kleid mit weißem Kragen an, das meine Mutter für die Einschulung gekauft hat, und auf die ich mich unsagbar freue, bis dann doch die Rektorin meine Mutter überreden wird, mich zurückzustellen, aber das ist noch sechs lange Wochen hin. Lackschuhe habe ich an, auf die ich stolz bin, und werde von meinem Vater wieder und wieder photograhiert.

Im Museum ist es dunkel und kühl. Eng an meinen Vater gepresst laufe ich von Vitrine zu Vitrine. Auf Kissen oder schwarzen Quadern stehen und liegen kostbare Möbel aus Gold und Holz, uralter Lotos wiegt sich am Nil, irgendwo ragt ein Hundekopf auf, und vor den Särgen stehe ich mit offenem Mund stumm in der ersten, vergoldeten Faszination vor dem Sterben und beeindruckt von der Schönheit, der leuchtenden Perfektion einer Kultur von der ich kaum mehr weiß, als dass es sie nicht mehr gibt. Mein Vater erklärt mir einzelne Exponate mit dem Katalog in der Hand, aber was weiß ich schon von den Wirren der Amarnazeit, was von Restauration und Stilen: Pracht sehe ich, etwas ideal Entrücktes, und dass menschliches Fleisch einmal in diesen Hüllen lag, ist mir so unvorstellbar wie das Zittern der Erde unter den Hufen des Triceratops.

Eine Postkarte bekomme ich am Ausgang mit der Maske Tut-Ench-Amuns auf dunklem Grund und an der Hand meines Vaters werde ich zum Wagen zurückgeführt.

(Es folgt: 1986)

Sonntag, 8. November 2009

Elternbesuch

Eine Groteske

"Das geht doch noch!", teilt man mir mit. Die Eltern meines geschätzten Gefährten J. seien - so ist man sich rund um den Tisch einig - vergleichsweise gemäßigt anstrengend, und etwa gegenüber der Mutter des C.2 eindeutig vorzugswürdig, denn weder hätten sich des J. Eltern auf Berlinbesuch direkt bei ihm eingenistet (was die Mutter des C.2 trotz der etwas beengten Raumverhältnisse bei diesem geschätzten Bekannten regelmäßig zu tun pflegt), noch hätten J.s Eltern versucht, wie die Mutter des C.2 auf die Alltagsgestaltung ihre Nachwuchses durch fremdartige Vorschläge einzuwirken, wie man als allzu ausladend empfundene Arbeitszeiten durch ein Gespräch mit den Vorgesetzten, möglicherweise unter Beteiligung der Gewerkschaft ("der was???") verkürzen könne. Auch sei bisher unter allen lebenden Menschen nur die Mutter des C.2 auf die Idee gekommen, in dessen berufsbedingter Abwesenheit seine Unterwäsche komplett zu bügeln, neu zusammenzulegen, sodann akkurat gefaltet wieder in die hierfür vorgesehenen Schubladen zu legen und dann beleidigt zu sein, weil der Dank für diese gute Tat etwas sparsam ausgefallen sei. Man dürfe sich deswegen nicht beschweren.

Auch im Vergleich mit der Mutter der S. stehen sowohl meine als auch die Mutter des J. eigentlich recht prächtig da. Denn keine der beiden mir nahestehenden Damen hat jemals Zeitungsartikel aus der Welt am Sonntag kopiert und übersandt, in denen die Abnahme der Fruchtbarkeit ab dem 25. Lebensjahr der Frau grafisch aufbereitet und zudem populärwissenschaftlich so erklärt wurde, dass die Mutter der S. den Artikel einfach versenden musste, obwohl, "Schatz, du weisst doch, wie ich's meine", dies natürlich auf keinen Fall als Anspielung auf einen akuten Enkelwunsch gewertet werden darf, zumal ja jeder weiß, dass es hierfür (von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen) eines Mannes bedarf, der im Leben der S. gerade rein gar nicht existiert.

Auch die Angst vor Kriminalität in der hiesigen Hauptstadt des Verbrechens teilen, wie ich höre, viele Eltern mit den Eltern des J., wie ja auch etwa die Eltern unseres lieben Freundes R. nur nach Berlin kommen, wenn sie in der Tiefgarage der Kulturbrauerei für € 12,-- täglich einen Stellplatz mieten können, damit nicht, wie es ja im Emsland täglich in der Zeitung steht, schlechte Menschen ihr Kraftfahrzeug anzünden und restlos zerstören. Überhaupt alle Eltern, so scheint es, hassen Graffiti.

"Aber wie kann das sein?", frage ich und rühre ebenso belustigt wie ratlos in meinen Reisbandnudeln mit Huhn. Waren die schon immer so? Wird man so, wenn man älter wird? Und blüht auch uns ein Leben inmitten abstruser Fehlvorstellungen hinsichtlich der angemessenen Lebensgestaltung jüngerer Menschen und der Gefahren des Alltags, wenn wir erst einmal sechzig sind, und werden dann dreißig Jahre jüngere Leute beim Lunch über einen lachen? Oder - und ich lasse vor Schreck die Stäbchen sinken - sind wir mit circa 30 bereits jenseits irgendwelcher Grenzen zutreffender Realitätswahrnehmung, und Menschen, die ungefähr 20 sind, sitzen irgendwo, essen und schütteln die Köpfe schon jetzt über uns?

Samstag, 18. Juli 2009

Aus dem Leben einer Katastrophe

Mein Leben ist ja so ungefähr so unterhaltsam wie das eines Bundes Möhren, und es gibt ernsthafte Anzeichen dafür, dass mein Cousin L. die Ursache dieser kaum normal zu nennenden Ereignislosigkeit ist, da dieser die gesamten vom Schicksal für meine ganze Familie vorgesehenen Kapriolen ganz allein aufgebraucht hat. Natürlich streitet der L. alles ab. Die Fakten aber sprechen für sich: Mein Cousin ist eine Katastrophe.

Dabei sei er diesmal, so der L., eigentlich einfach nur so mit einer Bekannten verreist. Nicht einmal besonders unterhaltsam sei das gewesen, weil die Bekannte zu Problemen neige, über die sie die ganze Zeit spreche. Nun ist mein Cousin L. kein Freund von nicht amüsanten Damen. Zwei Tage oder so machte der L. daher mühsam freundliche Miene zum langweiligen Spiel, dann fuhr er wieder heim und beschloss, die Dame künftig zu meiden.

Die Dame aber musste das gemeinsame Wochenende deutlich anders eingeordnet haben als der L., denn mehrfach, ständig sogar, rief sie an, schickte eine E-Mail nach der anderen, und schließlich stand sie sogar vor seiner Bürotür, als der L. Sprechstunde abhielt. Der L. versteckte sich mittelmäßig heldenhaft in seinem Büro. Die Dame erwies sich indes als außerordentlich hartnäckig.

Dem L. wurde das alles zuviel. Nun ist der L., als Cousine darf ich das sagen, kein so besonders direkten Konfrontationen zugewandter Mensch. Eine direkte Ansage dergestalt, dass er die Bekanntschaft künftig nicht weiter pflegen wolle, wollte der L. daher vermeiden und verfiel auf die Idee, statt seiner könnte die K. seiner Bekannten vermitteln, es sei vorbei. Die K., dies sei hinzugefügt, ist eine Art Dauerverhältnis oder auch Immer-Mal-Wieder-Verhältnis, ganz wie man es nimmt, jedenfalls treffen sich die K. und der L. immer dann, wenn die K. sich gerade nicht so gut mit ihrem Mann versteht. Läuft es gut bei der K. daheim, sind die K. und der L. einfach nur so recht gut befreundet.

Die K. rief also die Bekannte an. Über den Inhalt dieses Telephonats weiß ich an sich eher wenig, aber die Bekannte muss sich dermaßen geärgert haben, dass sie beschloss, sich zu revanchieren. Sie rief also wiederum an, allerdings nicht die K., sondern deren Mann. Dieser wiederum fühlte sich von dem Anruf gestört. Ich kenne den Mann der K. nicht, aber übermäßig eifersüchtig scheint er mir nicht zu sein. Übermäßig friedliebend dafür vielleicht schon eher, und so ließ der Mann der K. am Montag nach dem Telephonat gegenüber der Exfrau des L. (beide sind Kollegen) fallen, dies alles missfalle ihm in hohem Grade. Der L. möge sein Liebesleben doch mit etwas weniger hysterischen Leuten verbringen.

Der Exfrau des L. (die mit dem Kind) missfällt das Privatleben meines Cousin nun schon etwas länger. Zwar habe sie, sagt sie, hier keine Beteiligungsrechte mehr, auch fühle sie sich nicht im engeren Sinne gestört. Indes geschmacklos, unreif und des Vaters der gemeinsamen Tochter unwürdig sei das alles, erzählte sie kopfschüttelnd ihrer ehemaligen Schwiegermutter, der Mutter des L., bei der Übergabe meiner kleinen Nichte.

Meine Tante hatte noch nie viel über für die Umtriebe ihres einzigen Sohnes. Nun ist es nicht einfach, einen Vierzigjährigen noch auf seine alten Tage umzuerziehen, daher beließ sie es bei ein paar missbilligenden Worten, die allerdings meinen Cousin unverhältnismäßig verärgerten. Es müssen in der Folge ein paar böse Worte gefallen sein im Laufe der letzten Wochen, alle Beteiligten beschwerten sich bei ihnen nahestehenden Personen, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass schon morgen, auf dem 70. Geburtstag der Tante des L. (von der mir nicht verwandten Seite) die Irritationen zu öffentlichkeitswirksamen Szenen führen werden, von denen ich sicherlich erfahren werde, wenn der L. sie mir erzählt, um mich - gelangweilt, wie gesagt, wie ein Bund Möhren - ein wenig zu erheitern.

Sonntag, 15. Februar 2009

Antifaltencreme im Krieg

(Schwesterchen ruft an):

"Wusstest Du, dass La Prairie zu Beiersdorf gehört? Nein? Ist also quasi eine Art Nivea. Nur teurer. Und besser natürlich. Also schon ganz was anderes, gar nicht miteinander zu vergleichen. Wie'n Smart neben einer S-Klasse.

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Wirklich? Findest du? Finde ich nicht. Schau dir doch mal so Stars an, im Fernsehen. Hier, Nahaufnahme, die rennen seit fünfzig Jahre durchs Bild, und du siehst nichts. Tophaut. Lifting, klar, aber du siehst das schon. Mit Nivea ist da nichts zu wollen. Oder umgekehrt auch, sehr schockierend. Ganz schlimm. Da haben sie doch letztens so eine Frau interviewt, ich weiß nicht mehr genau, wann das war. Jaja, im Fernsehen. Eine Afghanin. Also so eine Frau, die in Afghanistan wohnt.

Nein, keine Ahnung, was die Frau gesagt hat, ich hatte den Ton aus und habe mit der H. telefoniert, der geht's doch so schlecht, aber da sehe ich doch nebenbei - total hart, Süße, so erschütternd: Da steht da unten im Bild der Name von der Frau, irgendwas Islamisches. Und daneben 37. 37 war die erst. Zwei Jahre älter als Kate Moss und sieht aus wie fünfzig. Runzeln hatte die Frau. Falten und Flecken. Und ganz, ganz schlimme Zähne.

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Na, aber klar ist das auch das Leben. Arbeit, Sonne, vielleicht raucht die Frau ja auch. Sieht man ja nicht. Im Fernsehen hatte sie jedenfalls keine Zigarette im Mund. Aber ich sag' dir, die Hautpflege ist das auch. Das bekommst du mir jetzt nicht ausgeredet. Hautpflege ist das A und O. Und La Prairie zieht da eben ganz anders als Nivea. Wobei - die Frau sah aus, als hätte sie nicht mal Nivea gehabt. Das ist doch Kriegsgebiet. Afghanistan. Liest man doch immer. Ich denk', Modeste, da gibt es wirklich gar nichts. Nicht einmal - also nicht einmal das Billigste vom Billigsten. Und Hautcreme: Da denkt das Rote Kreuz doch nicht mal dran. Essen, klar. Oder Medikamente. Aber Kosmetik - ich bin mir sicher, die Frau hatte nichts für die Haut. Gar nichts. Nicht mal 'ne simple Tagescreme. Kein Wunder, das die so aussah.

Aber das ist so typisch, Modeste: Männer fangen Kriege an. Und Frauen bekommen Falten."

(Schwesterchen legt auf.)

Donnerstag, 15. Januar 2009

Finis (oder auch nicht)

„Nicht so toll.“, krächze ich in den Hörer. Auch mein kleiner Cousin ist krank, höre ich, also zumindest so ein bisschen, also genug, um nicht zur Schule zu gehen, die ihn – an dieser Stelle wird tief geseufzt – ohnehin schrecklich nervt. Der Schulstoff interessiere ihn nicht.

Was er denn machen wolle, frage ich, um herauszubekommen, ob das demnächst zu absolvierende Abitur notentechnisch überhaupt relevant und damit schulisches Engagement auch in fürchterlichen Fächern erforderlich sein würde. Das wisse er nicht genau, antwortet er und legt eine lange Pause ein, die das ganze Ausmaß seiner Ratlosigkeit illustriert. Etwas Kreatives könne er sich vorstellen, kommt es dann, und ich seufze ein bisschen. Etwas Kreatives macht die halbe Stadt, und zumeist sind die Ergebnisse wirklich erschreckend.

Mit dem Malen, sagt der Kleine, sei es ja nicht mehr so. Schreiben indes, Schreiben sei etwas ganz anderes. Er werde, kündigt er an, einen Roman verfassen. „Wer nicht!“, gebe ich zurück. Das Romane schreiben sei ungefähr so verbreitet wie Pickel, mehr noch, ich kenne keinen erwachsenen Menschen, der nicht mindestens von einem Roman schwadroniert und nach dem dritten Wein detailliert Aufbau und Handlung erläutert. Ungefähr jeder zweite hat auch tatsächlich irgendwas verfasst, und selbst wenn diese Texte lesbar sind, haftet ihnen doch ein Air des Vergeblichen an, denn (was auch mein kleiner Cousin sich hinter die Ohren schreiben möge): Es ist aus mit der Literatur. Und alles, was noch kommt, Imitation und Nachspiel.

Der Kleine schluckt hörbar. Unerbittlich fahre ich fort. Es habe, sage ich ihm, im 19. Jahrhundert die Kunst der Wiedergabe menschlicher Empfindungen einen seitdem nicht mehr überbotenen Höhepunkt erreicht. Maupassant, Tolstoi, vielleicht Flaubert: Genauer kann kaum wiedergegeben werden, wie Menschen fühlen und was sie dazu treibt, Dinge zu tun. Diese Fertigkeit wird seither angewandt, aber solange Menschen sich nicht ändern, sondern nur ihre Umgebung, wechseln zwar die Interieurs, die Anlässe ändern sich, auf die Menschen reagieren, aber solange die Evolution sich nicht erheblich beschleunigt, wird alles Wiederholung bleiben. Nichts Neues unter der Sonne.

Zudem hat, füge ich hinzu, das 20. Jahrhundert die Grenzen der Sagbarkeit aufs Äußerste erweitert. Die Mittel, die eigentliche Beschaffenheit der Welt, ihre schattenhafte, spinnwebfeine, ganz und gar nichtstoffliche Seite auszudrücken, hat die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts gesucht, und sie hat sie gefunden. Ich mag Joyce nicht, ich habe kein besonders Faible für Virginia Woolfs avantgardistischeren Romane, aber ich weiß, dass sie funktionieren. Proust. Thomas Mann, die Rückkehr des Epischen. Die Macht von Sprache als Bann und Beschwörung. Die Ausweitung der Sphäre des Sagbaren über die Grenzen der Konvention bei Miller und über die Grenzen der Realität in eine phosphoreszierende Zwischenwelt, wie bei Garcia Márquez.

Ebenso, wie manche Sporttheoretiker annehmen, dass irgendwo eine objektive Grenze des menschlichen Vermögens, schnell zu laufen, liegt, sei möglicherweise eine Grenze erreicht, jenseits derer Sprache nichts mehr vermag. Innerhalb dieser Schranken ist unter Umständen fast alles erzählt. Nun mag auch die Wiederholung ihren eigenen Reiz haben. Wer mag, liebt vielleicht die Adaption des Bekannten in ein anderes Lokalkolorit, andere Kostüme, sucht die Kombinationen, versucht, den ermüdeten, gelangweilten Leser noch einmal mit noch anderen, vielleicht wirksameren Effekten einzufangen.

Aber lohnt sich das?, frage ich den Kleinen streng und ganz und gar rhetorisch. Muss man das machen? Ist diese mühselige Form der vergeblichen Anstrengung ein guter Ort, oder sollte man nicht etwas Angenehmes tun? Etwas, was nicht belastet wie das Schreiben. Etwas Leichtes, Amüsantes, ganz und gar Unernstes wie den Handel oder das Rechtswesen, wo man wenig Schaden anrichten kann und keine Erwartungen bestehen, außer Geld zu verdienen, von dem jeder weiß, dass es nicht wirklich existiert? – Erwartungsvoll schweige ich und suche mit der linken Hand auf dem Nachttisch nach einem weiteren Taschentuch.

„Das sei doch gar nicht wahr!“, braust mein Cousin auf. Von abstoßendem Zynismus geprägt sei meine Weltsicht, und nur meine Grippe hindere ihn, noch deutlicher zu werden. Zudem sei meine Annahme falsch, die Gegenwart weise literarisch keine vergleichbaren Quantensprünge auf wie die zwei vergangenen Saecula. Dies werde er mir auch beweisen. Eine Liste werde er vorlegen mit zehn bedeutenden Romanen seit 2000, die über den vorhandenen Bestand hinausgingen. Dann legt er auf.

Ich warte.

Sonntag, 10. August 2008

Die Sommerdecken seiner Eltern

"Man fängt ja
gar nichts mit der Verwandtschaft an – die
Verwandtschaft besorgt das ganz allein."

Kurt Tucholsky

Nun, meine Liebe, Sie suchen einen Mann. Das Leben mit einem Mann stellen Sie sich recht angenehm vor. Dabei sind Sie nicht naiv. Sie wissen, dass Männer auch Nachteile haben, dass alles auf Erden auch Nachteile hat, und dass das Zusammenleben mit jemandem, der möglicherweise – nein, ganz bestimmt – andere Lebensgewohnheiten hat als Sie, andere Verhaltensweisen für normal hält, und noch andere für wünschenswert, sich nicht immer einfach gestalten wird.

Auch dass Ihr zukünftiger Gefährte eine Familie hat, erscheint Ihnen ziemlich normal. Hätte er keine, Sie wären befremdet. Hätte er ganz merkwürdige Eltern, die beispielsweise komisch tätowiert wären oder rechtsradikal, Sie wären auch nicht begeistert, und dass ältere Leute – wie es die Eltern Ihres geschätzten Gefährten naturgemäß wären – manchmal ein bisschen sonderbar sind, dass nehmen Sie hin. Ihre Eltern, Verehrteste, sind ja auch nicht ohne, und niemand wüsste das besser als Sie.

Was es aber bedeutet, dass Ihr Gefährte Eltern hat, dass erfahren Sie nicht beim ersten Treffen, nicht beim ersten gemeinsamen Weihnachtsfest, und nicht einmal dann, wenn seine Eltern das erste Mal überraschend zu einem vollkommen unpassenden Zeitpunkt bei Ihnen erscheinen. Die ganze Bodenlosigkeit seiner Familie teilt sich Ihnen auch noch nicht mit, wenn Sie jedes Mal, wenn seine Eltern die inzwischen gemeinsame Wohnstatt verlassen haben, riesige Mengen fettiger Speisen verklappen müssen, die Sie nicht essen und überhaupt niemand zu sich nehmen würde, der noch nicht 70 ist und kein Teilnehmer eines Wettbewerbs, bei dem es um den höchsten Cholesterinspiegel Berlins geht.

Dann aber ist es soweit. Denn eines Tages kommen Sie nach Hause, krumm und schief von des Tages Last, und finden einen Benachrichtigungszettel vor, wie Paketdienste sie hinterlassen, wenn keiner zu Hause ist. Mit dem Zettel in der Hand gehen Sie zu den Nachbarn, die Nachbarn überreichen Ihnen ein riesenhaftes, aber verhältnismäßig leichtes Paket, und mit diesem Paket betreten Sie Ihre Wohnung. Sie wundern sich. Sie haben gar nichts bestellt.

Das Paket, wie Sie bei genauerer Untersuchung feststellen müssen, stammt aus einem Hannoveraner Geschäft, welches sogenannte Heimtextilien und Miederwaren führt. In Hannover gibt es so was noch. In dem Paket befinden sich zwei Bettdecken und eine Rechnung. Diese Rechnung sollen Sie bezahlen, unter den Decken sollen Sie schlafen, und weil es nur zwei Menschen auf Erden gibt, die in Ihrem Namen einfach so Hannoveraner Bettdecken bestellen, rufen Sie (nein, eigentlich Ihr Gefährte) auf der Stelle seine Eltern an.

Was das soll, fragt dieser mit der Direktheit, die nur ein Sohn des Hauses aufbringt. Man brauche keine Decken. Man schlafe ausreichend bedeckt, man habe genug Zeug auf den 85 qm, auf denen man sich ohnehin mehr schlecht als recht zusammenquetscht, weil man zu faul ist umzuziehen, und außerdem habe man es nicht gern, wenn über den eigenen Kopf hinweg Anschaffungen getätigt würden.

„Aber sie waren so günstig!“, entgegnet die ganz und gar nicht schuldbewusste Mutter ihrem Sohn. Dies möge zutreffen, antwortet jener. Indes sei nicht alles, was günstig sei, auch willkommen. Nicht einmal jede Aquisition, welche ein hervorragendes Verhältnis von Qualität und Kaufpreis aufweise, müsse deswegen auch getätigt werden, und daher werde man weder die Rechnung bezahlen noch die Decken abnehmen.

Die Rückabwicklung allerdings hat ihren Preis. Denn lang sind des geschätzten Gefährten Arbeitstage, Sie selbst arbeiten eigentlich auch immer, und wenn Sie abends nicht mehr arbeiten, arbeitet auch keine Post. Am Samstag hätten Sie zwar Zeit, aber keine Lust, die sperrige Sendung aufzugeben. Die Eltern sollten das Paket selber abholen und benutzen, dies aber hätte den Nachteil ihres wahrlich strapaziösen Besuchs, und so wuchtet Ihr Gefährte die Bettdecken samt Umverpackung erst einmal auf Ihren Kleiderschrank. So vergehen Wochen. In diesen Wochen bezahlt seine Mutter die Bettdecken bei dem versendenden Geschäft. Ansonsten passiert diesbezüglich nichts.

Am 9. August dann ruft seine Mutter an. Seine Mutter ruft ständig an, möglicherweise ist der Telephonapparat eigens für seine Mutter erfunden worden, aber aktuell hat seine Mutter ein besonderes Anliegen, denn sie wird nach Berlin fahren. Hier wird sie aber nicht ihren Sohn mitsamt seiner widerborstigen Freundin besuchen, denn aufdrängen will seine Mutter sich natürlich nicht. Stattdessen will sie per Bahn mit einer Freundin anreisen und vor Ort eine Ausstellung besuchen, welche sich mit der babylonischen Hochkultur beschäftigt, und nur an kurzen, absichtsvollen Gesprächspausen bemerken Sie, dass seine Mutter eine Einladung zum Tee erwartet.

Nun ist das Teetrinken mit der Mutter des geschätzten Gefährten nur so mittelmäßig amüsant, und so überlegen Sie für einen Moment, nur für eine Sekunde, ob es nicht nett wäre, seiner Mutter anlässlich dieser Einladung bei der Verabschiedung rein zu pädagogischen Zwecken mit dem ernsthaftesten Gesichtsausdruck der Welt das Paket zu übergeben, auf dass sie es im Zug nach Hannover transportiere.

Dann aber verwerfen Sie den Gedanken. Schließlich verschwinden seine Eltern nicht einfach so, das nächste Familienwochenende kommt bestimmt, und wenn die größten Fehler Ihres geschätzten Gefährte, denken Sie sich, 200 Kilometer weit weg in Hannover wohnen,

dann hat sich seine Anschaffung ja im Großen und Ganzen gelohnt.

Dienstag, 29. Juli 2008

Der entschwundene Garten

Schmal und ziemlich langgestreckt war der Garten meiner Großmutter, und je weiter man sich vom Haus entfernte, umso struppiger wurde der Rasen. Ganz hinten, wo früher, als mein Vater noch klein gewesen war, Hühner gehalten worden waren, taten sich sogar handtellergroße kahle Stellen auf, und das Gras war so gelb wie Stroh. Zwei- oder dreimal pro Jahr mähte ein hiermit beauftragter Bauer hier hinten, niemals wurde gesprengt, und das Obst der drei, vier verkrüppelten Apfelbäume reifte vergeblich der Fäulnis und den Wespen entgegen, die schwer, satt und schwankend vor Gärung über den Früchten kreisten.

Bis aber der August die Äpfel auf den Rasen warf, saß ich von Juni an im fleckigen Schatten der Bäume und las den ganzen Tag auf dem straff gespannten Stoff einer Liege, die rot war, glaube ich, und ab und zu kam meine Großmutter an den Blumen und den Erdbeeren, den Gurken und den Zuckerschoten vorbei bis zu mir und brachte mir Käsebrote oder etwas zu trinken, Jahr für Jahr. Ferien für Ferien.

Irgendwann aber kam die Großmutter nicht mehr bis hinten in den Garten, weil der Rücken ihr weh tat und die Füße auch. Im Sommer drauf kam sie auch nicht mehr bis zu den Beeten und schickte mich ab und zu nach einem Bund Petersilie oder einer Handvoll Dill. Am Ende dann, zwei Jahre später, setzte der mobile Pflegedienst die Großmutter nur noch auf die Terrasse, wo sie den Blumen zusah, den weiß-roten Tulpen, den Pfingstrosen, dem Rittersporn, den Dahlien zuletzt, und bevor die Astern blühten, war sie tot.

Acht Wochen später gehörte das Haus anderen Leuten.

Vier Jahre wohnten die ersten Käufer im Haus und strichen nicht mal den Zaun. Der Sturm fällte den Nussbaum, und sie taten monatelang nichts, den Stumpf zu entfernen. Dann gingen sie pleite und das Haus stand leer. Zwei Jahre lang hausten dann gleich zwei Familien in dem Haus, die in Unterwäsche durch den Garten liefen und die Nachbarn erschreckten. Nicht ganz vier weitere Jahre gehörte das Haus einer kinderreichen Familie, die auszog, als die Frau den Mann verließ, und dieser anfing zu trinken. Dann gehörte das Haus wieder der Bank, und die fand keinen Käufer.

Das Haus sei zu groß, hieß es in der Bank, für eine Familie und zu klein für zwei. Besonders der Riesengarten sei nicht verkäuflich, hieß es, denn niemand wolle heute so etwas noch haben, und so teilte die Bank das Grundstück in ein großes, auf dem sich das Haus befand, und drei kleine: den hinteren Garten.

Ein Jahr lang tat sich gar nichts. Nun aber, erzählen die Nachbarn, seien Bagger erschienen. Bauwagen stünden auf dem Gelände. Ein provisorischer Zaun werde errichtet, wo stets nur Hecken und Büsche waren. Die Bäume würden gefällt, und wo das gelbe Gras spross, wo die Liege stand, wo die Erdbeeren, die Gurken und die Zuckerschoten wuchsen, würden Fundamente gegossen für drei kleine, viereckige Häuser mit kleinen, viereckigen Gärten, ein bisschen Rasen, ein einziges Beet und kein Baum weit und breit, in seinem Schatten zu sitzen.

Mittwoch, 26. Dezember 2007

Quantus tremor est futurus

Bekanntlich hat alles auf Erden mindestens zwei Seiten, und diese bestürzende Ambivalenz macht vor den überirdischen Dingen keineswegs Halt. Sogar die Auferstehung etwa, Verheißung des ewigen Lebens und göttlicher Gerechtigkeit, wird nicht nur im Falle der wirklich schlechten Menschen zu den eher unangenehmen Erlebnissen gezählt werden müssen. Auch an sich harmlose Leute, gutartig und verträglich im Großen und Ganzen, haben, wie ich zu bedenken geben muss, Grund, das Erwachen unter den Klängen der Posaunen Jerichos insbesondere in Hinblick auf ihre Familienangelegenheiten zumindest ein bißchen zu fürchten.

Zwar nicht der Zorn der Engel des Herrn, auch nicht die ewige Verdammnis winken jenen, die sich sonst nichts zuschulden kommen haben lassen. Der Umstand indes, dass nicht nur man selbst, sondern auch alle anderen an diesem Tag des Herrn die Augen aufschlagen, spricht stark für einen wahren dies irae, und an ein Entkommen ist, so wie die Dinge dann nun einmal liegen, voraussichtlich nicht zu denken.

Mag sein, dass tatsächlich das eine oder andere Gras über unangenehme Erinnerungen gewachsen sein wird. Eher unwahrscheinlich ist etwa, dass kurz nach dem Erwachen entfernte Bekannte auf einen zustürzen werden, um obskure Kleinbeträge einzutreiben, die zurückzuzahlen man nicht mehr Gelegenheit hatte vor seinem Ableben, zehn Euro für‘s Mittagessen oder fünf Euro für ein Glas Wein oder so, auch kleine Ärgerlichkeiten wie die stets im Treppenhaus abgestellten riesengroßen Kinderwagen, die allmorgendlich weggeschnappte Lieblingstasse in der Kollegenküche, werden vergessen sein, wie ich hoffe, zumal sich lächerlich machen dürfte, wer in der langen Schlange vor dem Thron Gottes nichts besseres zu tun haben wird, als wegen steinalter Kamellen lauthals herumzukeppeln.

Nur als naiv zu bezeichnen wäre aber der, der annehmen würde, dass auch beispielsweise meine Tante L., Urgroßtante vielmehr, nicht schrecklich sein wird in ihrem Zorn, zumal dieser Zorn frisch sein wird, frischer geht es gar nicht, wenn sie im Zuge ihrer Auferstehung feststellen wird, dass ihren letztwilligen Verfügungen zuwidergehandelt worden ist und sie nicht – wie auf dem Sterbebett angeordnet – mit einem gravierten Silberkreuze bestattet worden ist, sondern mit einem schlichten Exemplar aus Holz. Dass man den unglaublichen Verstoß scheinheilig mit der Sorge um die sterblichen Überreste der Tante gerechtfertigt hat, deren Ausgrabung durch Räuber verhindert werden sollte, wird der Tante L. natürlich auch an diesem Tage keiner sagen, denn - quid sum miser tum dicturus? - diese Information würde dem Faß den Boden ausschlagen, und ein Skandal, eine Rauferei vor dem Thron des ewigen Rochters wäre die ebenso unausweichliche wie unangenehme Folge.

Auch die Tante S., derartig weitläufig verwandt, dass die Bezeichnung als Tante eher einer Verlegenheitslösung entspricht, wird sich nicht einfach so beruhigen lassen. In ihrem Brautkleid bestattet zu werden, mag zwar auch in Ansehung aeternitatis für eine über Siebzigjährige mit Übergewicht als etwas abwegig gelten. Dies erst zu versprechen, und dann die Tote doch in ein unförmiges, lilafarbenes und ziemlich zeltartiges Gewand hüllen zu lassen, war trotzdem nicht nett, und ob die Tante wenigstens dem Onkel P. verzeiht, weil dieser in seiner Gutmütigkeit tatsächlich versucht hatte, den Bestatter zu überreden, das Kleid hinten aufzuschneiden und die tote Tante irgendwie darin zu verpacken, ist ungeklärt und eher fraglich.

Nicht nur jene Umstände, die den frisch Auferstandenen sofort und am eigenen Leibe auffallen werden, werden an diesem Tage für Ärger sorgen. Schon die ersten zaghaften Gespräche zwischen Eltern und Kindern, Geschwistern, Tanten und einfach so Mitbestatteten werden bestürzende Umstände ans Licht bringen, Streitigkeiten wie Nachlässigkeiten, nicht befolgte Anordnungen und jahrelange Erbschaftsangelegenheiten, unverzügliche Wiederverheiratungen und derlei mehr, und am Ende wird so mancher das dringende Verlangen vor das Angesicht des Herrn bringen, die Ewigkeit sonstwo zu verbringen, nur bitte, bitte nicht da, wo die restliche Sippe angesiedelt wird, und der Herr wird nicken, der bekanntlich auch nicht nur Glück gehabt hat mit seinem Sohn.

Sonntag, 16. September 2007

Der Urgroßvater, der Rechtsanwalt, die Großmutter und wir

Meine Tante M. – eigentlich meine Großtante – log bekanntlich wie gedruckt, und wer ihr glaubte, sagte meine Großmutter, sei selber schuld. Tatsächlich sei so gut wie alles, was diese Tante zu erzählen pflegte, unwahr, und was nicht unwahr sei, sei wenigstens gehörig übertrieben, und so wäre die gemeinsame Mutter niemals mit aufgelöstem Haar, die Hände ringend und kleine, spitze Schreie ausstoßend auf die Straße gelaufen. Niemals hätte die sehr reservierte Mutter dies getan, erst recht nicht auf dem Weg zum Rechtsanwalt der Familie, einem Herrn Dr. G., der, und immerhin dies sei wahr, sich späterhin allerdings als ein rechter Lump entpuppt habe.

Der Charakter des Rechtsanwalts allerdings interessiert uns eher wenig. Ob es denn tatsächlich unzutreffend sei, bohrte mein Cousin L. nach, dass jener Herr von der Urgroßmutter beauftragt worden sei, gegen ihren eigenen Mann, den Urgroßvater nämlich, ein Entmündigungsverfahren einzuleiten? Ein Verfahren, an dessen Ende die vollständige und allumfassende Geschäftsunfähigkeit stehen sollte? Ein gerichtliches Verfahren, über das die ganze Stadt gesprochen habe, wie Tante M. uns verraten hatte, die – im Gegensatz zu meiner Großmutter – sehr gern und mit erschreckender Ausführlichkeit, auch vor einem recht minderjährigen Publikum diejenigen Geschichten zum Besten zu geben pflegte, über die der Rest der Familie niemals sprach.

„Da gibt es auch nichts zu erzählen!“, rief meine Großmutter mit für ihre Verhältnisse entschieden erhobene Stimme aus und brach eine Tafel Blockschokolade derart bracchial entzwei, dass mein Cousin mir bedeutungsvoll zuzwinkerte. „Es gab also kein Verfahren?“, setzte der L. nach und steckte sich schnell ein paar Krümel der Schokolade in den Mund.

„Die ist nicht zum Essen.“, zog meine Großmutter das Päckchen vom Tisch und rührte in dem Milch-und-Sahne-Gemisch auf dem Herd. „Kein Verfahren?“, blieb mein Cousin fest und sah meine Großmutter durchdringend an. Es habe kein Verfahren gegeben? Die Tante M. sei nicht aus dem Radfahrverein gestoßen worden? Der Onkel F. nicht heulend aus der Schule gekommen, weil keiner mehr mit ihm schnipsen gewollt habe als Mitglied einer Sippe, deren Angehörigen das Spiel nicht bekam?

„Kinder sollen nicht soviel fragen.“, behauptete meine Großmutter und ließ die Schokolade vorsichtig vom Löffel in die Milch gleiten. „Also doch.“, nickte mein Cousin und bohrte weiter nach: „Tante M. sagt, er hätte Haus und Hof verspielt, wenn man ihn gelassen hätte, und am Ende war schon kaum mehr was da?“ – „Über Kranke macht man keine Witze.“, tadelt meine Großmutter und rührte entschieden die sich langsam schokoladenbraun verfärbende Milch.

„Ich mach‘ doch gar keine Witze.“, wehrte sich der L. und klapperte ein bißchen mit der Tasse. „Lass das!“, rügte meine Großmutter und nahm ihm die Tasse aus der Hand. Schwere Zeiten seien das gewesen, merkt sie an, und wir könnten froh sein, dergleichen nie erlebt zu haben. Wie man angeschaut worden sei, auf der Bank, und sogar die Zugehfrau habe ihr Geld ab sofort immer vor Vollzug bar auf die Hand haben gewollt.

„Und was er nicht verspielt hat, hat der Anwalt zur Seite gebracht?“, heischte der L. nach weiterer Bestätigung. Ingrimmig nickte meine Großmutter und kniff die Lippen aufeinander. Ein Schurke sei das gewesen, ein arglistiger Betrüger, der die geschäftliche Unerfahrenheit der Urgroßmutter ausgenutzt habe, sich schamlos zu bereichern mit der Vollmacht, die man ihm gutgläubig erteilt.

„Fertig!“, goß meine Großmutter die heiße Schokolade so heftig in beide Tassen, als könne sie den betrügerischen Anwalt darin ertränken, und drückte jedem von uns den Kakao in die Hand. - „Geht spielen.“, schickte sie uns, in der Hand die vollen Tassen, aus der Küche und war für weitere Auskünfte über den präzisen Geschehensverlauf nicht mehr zu haben, und so ist dies so gut wie alles, was ich weiß.

Montag, 11. Juni 2007

Von mir kriegst du nichts

Nicht, dass es nennenswert viel zu vererben geben würde bei uns zu Haus, doch aus einer schwer erklärlichen Mischung aus Streitlust und innerfamiliärer Verbitterung über die jeweils anderen Verwandten endet, seit ich denken kann (und wahrscheinlich schon erheblich länger), jeder innerfamiliärer Todesfall mit einer erbschaftsrechtlichen, in aller Regel gerichtlichen Auseinandersetzung. Welcher Stellenwert dem Erben und Vererben innerfamiliär zukommt, lässt möglicherweise eine Episode erkennen, an die ich – gleichwohl Hauptprotagonistin – mich nicht die Spur mehr erinnern kann, gleichwohl schwören alle Anwesenden Stein und Bein, dies habe exakt so und nicht anders stattgefunden.

Ungefähr achtjährig, sagt man, hätte ich auf dem Spielplatz eines Ausflugslokals mit meiner Schwester, zwei Vettern und einigen anderen, mir nicht verwandten, sondern vor Ort vorgefundenen Kindern gespielt. Im Zuge des Spiels seien Unstimmigkeiten aufgetreten, laut sei es geworden zwischen Rutsche und Sandkasten, und auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen hallte weithin hörbar bis zur unweit belegenen Terrasse des Lokals mein erbitterter Ausruf: „Von meinem Geld sollst du nichts haben!“, gefolgt von den unmissverständlichen Worten: „Dich streich‘ ich aus dem Testament!“ – Besonderes Erstaunen ob der an sich eher unkindlichen Reaktion erregten diese Worte bei den volljährigen Familienmitgliedern auf der Terrasse des Lokals, sagt man, indes nicht.

Keiner Bestattungsfeier, ich schwöre, hätte ich jemals beigewohnt, auf der die Frage nach Erbschaft und Vermächtnis nicht spätestens beim tröstenden Kuchen, wenn nicht sogar bereits am offenen Grab debattiert worden sei. Kein 80. Geburtstag, bei dem nicht zumindest in der Küche, fernab von Reden und Glückwünschen, diskutiert worden sei, was mit Haus und Geld, Schmuck und Silber zu geschehen sei, wenn es sich einmal ausgefeiert haben sollte, und kein Familienmitglied, das nicht alle paar Jahre, familiären Verwerfungen Rechnung tragend oder auch einfach so, sein Testament zu ändern pflegt. Im Nachhinein darf in mindestens der Hälfte aller Fälle durchaus bezweifelt werden, ob die so angeordnete Erbfolge tatsächlich dem Willen des Verstorbenen entsprach oder nicht etwa einer schlichten Laune folgend im festen Bewusstsein niedergeschrieben wurde, es dem Rest der Familie einmal kräftig zu zeigen und zu einem unbestimmt späteren Zeitpunkt von der demonstrativen Geste bei einem verschwiegenen Notar wieder clamheimlich abzurücken.

Nicht wenige Familienmitglieder beispielsweise hegen ernsthafte Zweifel daran, ob etwa Onkel P. den nicht unerheblichen Teil seines Besitzes, welcher sich in seinem Weinkeller manifestierte, wirklich einer wohltätigen Organisation vermachen wollte, die insbesondere in Afrika den Welthunger bekämpft, oder nur der Tante vor Augen führen wollte, was ihr blühen werde, werde der am Ende bettlägrige Onkel nicht wunschgemäß gepflegt. Im Zuge der Demonstration – die der Onkel vermutlich nach und nach zu intensiveren plante - war selbiger indes verstorben.

„Das kann er nicht ernst gemeint haben.“, waren sich daher die nach der Beerdigung in der Küche versammelten Tanten und Großtanten vollkommen einig, thematisierten die lange und schwere Erkrankung des Onkels, die unzureichende Pflege durch die dazugehörige Tante, deren hühnerhafte Aufregungszustände allen Anwesenden schon seit der frühmorgendlichen Grablegung ganz entsetzlich auf die Nerven fiel, und die immer häufiger werdenden geistigen Absenzen in den letzten Monaten seines Daseins. „Seiner eigenen Frau das Schwarze unter den Nägeln nicht zu gönnen!“, ereiferte sich meine Tante L., und rang buchstäblich die Hände. Seinen Weinkeller vorbei am eigenen Fleisch und Blut Leuten zu vermachen, die vermutlich nicht einmal Wein trinken, fand auch meine Großmutter nicht gut, und überhaupt war man sich einig, dass wohl kaum die dürstenden Kinder Afrikas, sondern bloß die ortsansässigen Mitarbeiter der karitativen Organisation von diesem geradezu unanständigen Exzess der Wohltätigkeit profitieren würden.

Von langgezogenen Schluchzern geschüttelt lag die frisch verwitwete Tante währenddessen im Bett. Ab und zu trat eine der Nichten und Schwiegernichten (die Ehe war kinderlos geblieben) behutsam in ihr Schlafzimmer, tätschelte ihr vorsichtig die Schulter und stellte einen mit Kuchen und Schnittchen gefüllten Teller auf den Nachtschrank. Zwar erfolgte keine sicht- oder hörbare Reaktion der Dankbarkeit aus dem Polstergebirge, unter dem sich der Tante Kopf verbarg, indes konnte einige zehn Minuten später der leere Teller wieder hinausgetragen werden. Ganz so untröstlich, zischte man sich in der Küche zu, war die Tante also offenbar doch nicht.

Hätten die anwesenden Tanten und Großtanten gewusst, dass nur unziemliche zehn Monate später ein anderer Herr ins Haus des Onkels einziehen würde, man würde sich gewünscht haben, Onkel P. hätte alle seine weltlichen Güter, statt nur den Weinkeller, den armen Kindern in Afrika vermacht, und auch die Tatsache, dass die gierigen Mitarbeiter der wohltätigen Organisation nicht nur die Flaschen selber, sondern auch die Kühlschränke und Weinregale als ihr Erbe deklarierte, hätte unter diesem Aspekt den Beifall der übrigen Verwandtschaft gefunden, die vor Entrüstung monatelang kein Wort mit der Abtrünnigen sprach. Als man sich allerdings wieder dazu bereit finden wollte, die unterbrochene Konversation fortzusetzen, war, wie es bisweilen zu gehen pflegt, die ehemalige Tante nicht mehr an der Fortsetzung der Verwandtschaft interessiert.

Mit der Erkenntnis, eine wahre Schlange am Busen der Familie genährt zu haben, zog die Sippe sich schwer gekränkt zurück.

Auch ganz gern zurückgezogen hätte man sich allgemein von der Tante T., so gern nämlich, dass jene Tante ohne das Attribut „die angeheiratete“, was eine leicht gequälte Distanz ausdrücken sollte, überhaupt nicht vorkam, denn jene Tante war nicht nur rechtsradikal und als junge Frau von Arno Breker in Metall gegossen worden, nein, die Tante, Mutter der 2. Frau meines Onkels A., war auf ihre alten Tage zur fanatischen Christin geworden und verängstigte mit eindringlichen Visionen vom Höllenfeuer besonders gern die minderjährigen Kinder ihrer angeheirateten Verwandtschaft. In ihren Erzählungen langten stets der Hölle blutige Klauen nach unfrommen Kindern. Das ewige Feuer der Verdammnis erfasste ihren Mitteilungen nach nicht nur Menschen, die die Ehe brachen oder Tiere quälten, nein, auch Kinder, die zwischen den Mahlzeiten Schokolade essen, mit ungewaschenen Händen zu Tisch erschienen oder vor den Klavierstunden nicht übten, fielen dem Teufel anheim, der sie an langen Spießen über dem offenen Feuer zu braten plante.

So kritisch die Tante T. gegenüber Kindern auftrat, so nachsichtig war sie gegenüber ihrem Hund. Diesem, einem fetten Vieh mit Hüftdyplasie und spärlichem Haarwuchs, war sie zärtlich zugetan, und als es ans Sterben ging, dauerte sie das weitere Schicksal des Hundes mehr als ihr Seelenheil oder gar das weltliche Wohlbefinden ihrer Tochter. Nicht nur Unterkunft und Ernährung des missgestalteten Tieres lagen ihr am Herzen, auch die Seele ihres Hundes wollte die angeheiratete Tante T. nicht sich selber überlassen, und so traf sie die Verfügung, dass ein ortsnaher Orden frommer Damen sich des Hundes insoweit annehmen sollte, dass gegen ein Vermächtnis in Geld täglich eine bestimmte Anzahl „Ave Maria“ zugunsten des Hundes zu beten sein sollten.

Dies indes lehnten die frommen Damen ab. Ob nun das Geld, wie es innerfamiliär hieß, schlicht zu knauserig bemessen war, oder ob tatsächlich Hinderungsgründe reigiöser Natur bestanden: Die Schwestern behaupteten, für einen seelenlosen Hund dürfe und könne man nicht beten.

Da die Tante T. diesem Verbot jahrelang zuwidergehandelt hatte, schmort sie nach einhelliger Überzeugung der ganzen Familie seit 1986 unrettbar in der Hölle.

Krönung und unbestrittener Höhepunkt der familiären Erbschaftsauseinandersetzungen stellt jedoch das Erbe meines Großvaters dar, der säuberlich handgeschrieben drei verschiedene undatierte Testamente hinterließ, natürlich sehr verschiedenen Inhalts, und die Familie in eine mehrjährige gerichtliche Auseinandersetzung stürzte, die derart viel Geld und Nerven verschlang, dass einige zartbesaitete Tanten und Onkel noch heute hilflos zu japsen beginnen, kommt die Rede einmal zufällig auf diesen Vorfall. Neben den hauptsächlichen, völlig unvereinbaren Anordnungen der Erbfolge setzte er an ungefähr die Hälfte seiner Enkel Vermächtnisse aus, und die überging die andere Hälfte mit der ganzen missbilligenden Kraft seines postmortalen Schweigens.

Nicht nur die Rechtsfolge, auch die Motivation seines Handelns blieb während der gesamten familienzerfetzenden Auseinandersetzung völlig unklar, und veranlasste das letztinstanzliche Gericht zur ratlosen Randbemerkung im Urteil, gerade bei einem rechtskundigen Erblasser sei dieses Verhalten letztlich rätselhaft und nicht bis ins Letzte aufzuklären. Einige – vorwiegend übergangene – Familienangehörige vermuten bis heute die reine Bosheit.

Inzwischen ist viel Wasser den Rhein und die Elbe, die Donau und die Spree hinabgeflossen. Lange ist niemand gestorben, und nur selten hört man von den Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen, Cousins und Cousinen, die weit verstreut über die Lande ihrem Tagewerk nachgehen, sich verheiraten und scheiden, vermehren und Besitz anhäufen, emsig Testamente verfassend, ändernd und verwerfend, um, wie anzunehmen ist, jene liebgewonnene Gewohnheit der rauschenden Erbauseinandersetzung bei nächster sich bietender Gelegenheit mit unverändertem Feuer fortzusetzen.



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