Sonntag, 24. Dezember 2006

Der anthroposophische Weihnachtsbaum

Ein gewisses Misstrauen bringt man dem Wirken Rudolf Steiners vermutlich nicht ganz zu Unrecht entgegen, und nur der Erfolglosigkeit der Anthroposophie verdanken wir es, dass die Schriften Steiners nicht unermessliches Leid über die in dieser Hinsicht ja ohnehin recht gebeutelten Menschen Europas gebracht hat. Nichtsdestotrotz schicken Jahr für Jahr unzählige Menschen ihre Kinder in Waldorf-Schulen, nicht zuletzt, weil es sich um eine auch in linksliberalen Kreisen sozial akzeptierten Umgehung der öffentlichen Schulen handelt, welche es Zahnärzten und Dorfnotaren erspart, ihren Nachwuchs mit Leuten zur Schule zu schicken, die die Waldorfeltern Unterschicht nennen würden, wenn das in ihren Ohren nicht irgendwie komisch klingen würde.

Der Erfolg einer Waldorf-Kindertagesstätte im Prenzlauer Berg versteht sich daher eigentlich von selbst, und so erstaunt es unbeteiligte Nachbarn wie mich, dass ein Verein, der sich die Gründung einer solchen Institution auf die Fahnen geschrieben hat, überhaupt noch einer Förderung bedarf. Gleichwohl: Seit mehreren Jahren verkaufen Mitglieder dieses Vereins auf dem Grundstück, auf dem dermaleinst die Waldorf-Kita stehen soll, kurz vor Weihnachten Nordmann-Tannen zugunsten dieser vorschulischen Bildungseinrichtung.

Die Tannen sind ungespritzt, weil das chemische Behandeln von Pflanzen nicht Rudolf Steiners Billigung fand. Außerdem sind die Tannen ziemlich teuer, teurer jedenfalls als vergleichbare unanthroposophische Gewächse, und die diffuse Missbilligung der Anthroposophie im Verein mit dem Preisniveau der Weihnachtsbäume sprechen klar zugunsten eines anderen Baums, den der J. und ich uns ins Wohnzimmer stellen wollen, wie man das ja gemeinhin zu tun pflegt, wenn man, wie wir, Weihnachten nicht nach Hause fährt.

Auch der unanthroposophische Weihnachtsbaumkauf hat allerdings seine Tücken, denn Mitglieder des weihnachtsbaumverkaufenden Fördervereins sind unter anderem auch einige unsere Nachbarn, die alle, alle in den letzten drei Jahren zur Fortpflanzung geschritten sind, und das Haus seitdem mit unermesslich vielen, riesengroßen Kinderwagen, Kindergeschrei und beiläufigen Gesprächen über Mumps und frühkindliche Musikerziehung füllen. Die Verkaufsstätte der Bäume befindet sich nebenan.

Zu den Nachbarn pflegen wir ein freundliches bis sogar freundschaftliches Verhältnis. Die Bäume sind zu teuer und Rudolf Steiner hätten wir ungern zum Essen eingeladen. Zwei Seelen schlugen, ach, in unserer Brust, sofern es denn zulässig ist, von nur einer Brust zu sprechen, wenn zwei Gestalten am Küchentisch das Für und Wider des Kaufs erörtern.

Am Ende siegt der Opportunismus, der Wunsch nach friedlichem Einvernehmen mit den Nachbarn, der Wunsch, keine Gespräche über Waldorfpädagogik führen zu müssen, und auf unserem Balkon liegt nun, ordentlich eingewickelt in ein Netz, der Rudolf-Steiner-Gedenkbaum und wartet auf seinen Auftritt.



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