Marie Bashkirtseff
Von Nizza nach Rom, von Rom nach Neapel, hin und her, Baden-Baden, Genf, auf ein paar Wochen nach Russland, und immer weiter mit einem Tross Dienerschaft, den langsam verblühenden Tanten, der blassen, schwachen Mutter, um schließlich 1884 in Paris zu sterben, 24 Jahre alt. Notre dame du sleeping car, nennt sie ein Freund, unsere liebe Frau von der ewigen Unruh‘, ein anderer, und unklar bleibt, was es ist, das es sie weiter treibt, von einem Ort des eleganten Europa zum nächsten. Vielleicht ist’s auch gar kein Fernweh, kein Wunsch, an einem anderen Ort das Glück zu suchen, das nie dort ist, wo Maries Koffer gerade stehen. Vielleicht ist es einfach gedankenlose Gewohnheit eines Kindes, das ein Daheim nicht mehr kennt, seit die Eltern sich trennen, schon bald nach der Hochzeit, und die Mutter mit Dienerschaft und Tanten, Zofen und Lakaien, einem Mohrenknaben und mitreisenden Ärzten Russland verlässt, um auf eine endlose Reise zu gehen von Hotel zu Hotel, einmal quer durch Europa.
Fremd erscheint ihr nun der russische Distrikt ihrer frühen Kindheit. Langweilig sind die ländlichen Wolfsjagden und die immergleiche, folgenlose Galanterie der ländlichen Bekannten, besucht sie einmal ihren Vater. Fremd auch ist die russische Sprache geworden, die sie nur noch mit den Dienern spricht. Das Tagebuch, das sie nach ihrem Tode erst bekannt machen wird, führt sie auf Französisch, aber auch das Französische bleibt ihr letztlich fremd, und sie merkt es, wie auch Italienisch, Englisch, ein wenig Deutsch, aber es wird nichts Rechtes mit den Sprachkünsten der kleinen Marie, die nach raschen Lernerfolgen - denn Marie ist begabt - sich gelangweilt abwendet, sobald die Mühen beginnen. Rasch fasst sie auf, bringt es in allem, was sie tut, auf schnelle Kunstfertigkeit. Sie liest, sie spielt, sie tut, was sie tut zum Entzücken ihrer Tanten, aber dieses Entzücken reicht ihr nicht, und alle Bewunderung, die man ihr entgegenbringt, wird ihr nie reichen, denn das eigentliche Ziel des Mädchens, das mit zwölf Jahren sein Tagebuch beginnt, ist der Ruhm, eine vage Vorstellung von Größe und Bedeutung. Ich möchte Cäsar sein, Augustus, Marc Aurel, Nero, Caracalla, der Teufel, der Papst!, wirft sie ungeduldig auf die Seiten ihres Tagebuchs, da ist sie 15 Jahre alt und erträgt es kaum, noch nicht berühmt zu sein, wofür auch immer. Willensstark ist Marie, heftig und schwankend in ihren Wünschen.
Eine große Sängerin will sie sein, singt, bis ihr die Stimmbänder versagen, und sie den Traum von der Bühne begraben muss. Einen Herzog zu heiraten, den Neffen eines Kardinals, eine große Dame zu sein der Gesellschaft, die sich ihr nicht ganz öffnet, denn ein wenig obskur mögen die reichen Russen des kleinen Landadels der ansässigen Gesellschaft erscheinen. Vielleicht wird der Reichtum ein wenig zu laut zelebriert, vielleicht erscheint das fahrende Leben zwischen Hotels und stetigen Aufbrüchen ein wenig anrüchig, oder es reicht schlicht das Geld nicht, um dies vergessen zu machen, und so wird es nichts mit Maries Träumen von einer Hochzeit, die Glanz und Größe ohne eigenes Zutun eröffnet.
Dass es nicht die Liebe ist, die ihr Interesse an den Bewerbern erregt, konstatiert sie selber, denn kühl, erbarmungslos mit jeder Regung der eigenen Seele zeichnet sie die Schwankungen des eigenen Gemüts auf: Wie sie nur in Abwesenheit liebt, die Spottlust und die Kälte in Gegenwart der Verehrer, überhaupt, aus welchen nicht immer reinen Quellen ihre Neigung sich speist, und das eigentlich Abstoßende der Berechnung verwandelt sich beim Lesen in einen leises Mitleid mit der Ziellosigkeit einer kleinen Prinzessin, die nicht fassen kann, das ihr das Leben nicht alles schenken mag, was es anderen zu bieten bereit ist, und auch die Fassungslosigkeit aufschreibt mit der ganzen exhibitionistischen Grazie vollkommener Aufrichtigkeit.
Die Schonungslosigkeit im Umgang mit der eigenen Seele ist es auch, die versöhnt mit ihrer grotesken Selbstverliebtheit, die sich immer wieder in langen Schilderungen ergeht, wie sie am Balkon sitzt etwa, in einem weißen Kleid, was sie trägt, lauter lebende Bilder mit Marie im Mittelpunkt. Die ridiküle Bewunderung ihrer schönen Hände, des reinen Gesichts, denn hübsch ist sie wirklich, den Photographien und Portraits zufolge, ein reizendes Mädchen, dem die Heftigkeit des Temperaments nicht anzusehen ist, das stets schwankende Gemüt, das sich liebt, hasst, vergöttert, das Höchste von sich erwartet und zutiefst enttäuscht ist, bleibt sie sich schuldig, was sie von sich verlangt.
Eine große Sängerin wird sie also nicht werden, der der Tod von den Stimmbändern langsam Richtung Lunge kriecht und ihr den Körper zersetzen wird. Der sie ein paar Jahre später das Gehör kosten wird, noch ist sie keine 21, und die sich beobachtet wie eine Fremde, eine Verdopplung in zweimal Marie: Eine Marie, die sich erregt zu Boden wirft, ihre Handschuhe aus dem Fenster fallen lässt, einen Uhr ins Meer wirft vom Nizzaer Balkon des Hotel Negresco, die weint, die Dienstboten quält, um sodann übertriebene Geschenke zu senden, alle Welt zu umarmen und sich wieder zu versöhnen, so geräuschvoll wie der Streit. Eine andere, die neben sich steht, sich beobachtet, und sich mit jener anderen Person nur vereint, um Stoßseufzer zu Himmel zu schicken, an deren Vergeblichkeit sie von Jahr zu Jahr weniger vorbei kommt. Mein Gott, wenn du mich leben lässt, wie ich es wünsche; ich verspreche dir, mein Gott, wenn du Mitleid mit mir hast, ich verspreche dir von Charkow bis nach Kiew zu Fuß zu gehen wie die Pilger. , schreibt sie, aber Gott, dem sie den zehnten Teil ihrer Einnahmen verspricht, ist nicht gnädig, und der Ruhm kommt nicht zu ihr noch das glänzende Leben.
Einen Versuch unternimmt sie noch, beginnt zu malen, schließt sich einem Atelier an, das auch Frauen ausbildet, und wundert sich, dass die anderen Schülerinnen sie, die mit ihren Dienern erscheint und sich Mahlzeiten aus den Küchen der großen Hotels kommen lässt, nicht mögen. Wie in allem was sie tut, bleiben auch hier die Erfolge nicht aus, sie stellt aus, findet Förderer, und ist doch nicht zufrieden, denn sie selbst, sie selbst hat mehr von sich erwartet als die letztlich nur handwerklichen Fertigkeiten, die ihren Bildern anzusehen sind, auch wenn sie Erfolge einfährt, um die andere sie beneiden.
Sie malt wie besessen, denn der Ruhm muss doch kommen. Sie verlässt Paris nur noch selten, denn da steht das Atelier, das letzte schmale Tor zu Berühmtheit und Größe. Sie übernimmt sich, malt Tag und Nacht und verpasst doch die Maler der jüngsten Generation, die in den Achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts groß werden, die Impressionisten, den Pointillisten, und eifert den akademischen Lehrern nach, vielleicht auch verblendet von dem Glanz, der diesen sichtbar und sofort zuteil wird, und jenen erst später, aber da ist Marie schon lange tot.
Ein wenig trauert man mit ihr um den vergeblichen Traum von Unsterblichkeit zu Lebzeiten. Ein wenig schüttelt man den Kopf vor der Eifersucht auf jeden Erfolg der anderen Schülerinnen, der Heftigkeit, den immer schriller werdenden Klagen und der Enttäuschung der Zwanzigjährigen, die zusehends müde wird, weil ihr nicht reicht, nie reicht, was das Leben ihr schenkt. Blick- und gedankenlos geht sie vorbei an allem, was das Paris jener Tage zu bieten hat, diese satte, üppige Stadt, strotzend vor Lebenslust und Genussucht, all das, was sich darbietet in den Romanen von Flaubert, Balzac, den Novellen des Maupassant, mit dem sie einen törichten, anonymen Briefwechsel pflegt, um der Größe zumindest nahe zu sein. Das Leben mit dem Duft der Blumen, dem Wirbel der hungrigen, stetig wachsenden Städte, den gesunden Lungen und dem gesunden Appetit auf Skandale und Liebschaften, auf die schweren Braten und Weine dieser prosperierenden Tage: Keinen Niederschlag findet all das in ihrem Tagebuch, und so geht Marie am Leben, das sie haben könnte, vorbei zugunsten des Lebens, das sie nicht haben kann. Sie verbrennt sich dabei, überanstrengt sich, und die Last der Enttäuschung, der Mühe und der Müdigkeit der steten Anstrengungen und allzu kleinen Erfolge frisst an ihrer Gesundheit.
Mit 24 geht ihr der Atem aus. Ein paar Tage vor ihrem Tod ein letzter Eintrag, und man schließt das kleine Taschenbuch mit einer Beklemmung und einigem Mitleid mit dem ungelebten Leben des toten Mädchens, zu dem der Glanz nicht kommen wollte: Jene Gnade der Kunst, die zu erhalten es nicht reicht, sie so heftig zu begehren, dass es einen das Leben kostet, bis man nichts mehr davon haben wird, wenn das Protokoll dieses Scheiterns einmal berühmt werden soll, aber man selbst liegt längst schon im Grab in Paris Passy.