Das Meer wäscht uns aus

Die ganze Nacht hatte der Sturm das Meer umgegraben, und das sommerliche Blau nach unten gespült. Grau und aufgerissen starrte der Ozean uns entgegen, an diesem Sommermorgen morgens um fünf, und am Strand lag der Abfall der See, den das Wasser aufs Land geworfen hatte. Mit nassen Hosen, frierend auf dem feuchten, harten Sand, tranken wir die Flaschen leer und rauchten, als gelte es, unbekannte Mächte mit Brandopfern zu versöhnen. Ein paar Meter entfernt hatte es einen Rinderschädel mit eingedrückter Hirnschale aufs Trockene gespült, ein paar Quallen und alte Seile dazu, und zwischen den Muscheln lagen die Reste brauner Knochen, keiner länger als drei, vier Zentimeter. Vor uns lag die Nacht noch in schweren Wolken über den Wassern, und mit geschlossenen Augen ließ ich mich in den Sand fallen, müde von den vielen Worten, und blies den Rauch der Zigarette in die scharfe, salzige Luft.

„Nur bis zu den Knien.“, hörte ich den J.² sagen, die kurzen Antworten des R., und schlug die Augen auf. „Ich komme mit.“, sagte ich, und ließ die Jeans am Strand, wo der R. auf uns wartete. Das Wasser fühlte sich kälter an als am Vortage, schwerer, als hätte der Sturm die Masse zusammengepresst und verdichtet. Stumpfgrün zog das Meer an unseren Beinen, und Hand in Hand gingen wir der Dunkelheit entgegen bis das Wasser mir bis zur Hüfte reichte und kraftvoll zurückwich, um Sekunden später zurückzukehren und mir ins Gesicht zu schlagen. „Lass uns umkehren.“, zog der J.² an meinem Handgelenk, und ich schüttelte den Kopf. Ein paar Meter hinter mir blieb er stehen.

Immer ziehender wurde das Meer, die Wellen schlugen zusammen über meinem Kopf und trieben mit ihrem Salz den bitteren, betäubenden Geschmack der Nacht aus meinem Mund. Für Sekunden hob ich die Beine vom Boden, um mich wegtragen zu lassen, der Nacht hinterher, und setzte Schritt für Schritt den Weg fort, der Mitte des Meeres entgegen, wo es dunkel werden würde und kalt.

In der Mitte aber, in der Mitte des Meeres auf einem Stein, säße einer mit abgewandtem Gesicht, und würde auf mich warten. Auf seinem Schoß würde ich sitzen, das Gesicht in seine Halsbeuge gepresst, und mich festhalten an seinen Schultern, und er würde Stück für Stück mir das Fleisch von den Armen beißen, bis nichts mehr über wäre, und der nächste Sturm die Knochen an den Strand spülen würde.

Keiner länger als ein paar Zentimeter.

burnston - 12. Dez. 2005, 17:29 Uhr

Wissen Sie noch, als ich Sie damals eine ganz schwarzhumorige Person genannt habe. Ihr aktuelles Werk scheint mir einmal mehr das H gern gegen ein T auszutauschen zu wollen. Dass das Bild vom Fleischbeissen solch einen Unwillen in mir auslöst, spricht allerdings vermutlich für seine Gewalt.

Aber als North Beachboy muss ich mir diese sinistre Ozeankonnotation sofort wieder aus dem Kopf schlagen.
rationalstürmer - 12. Dez. 2005, 18:00 Uhr

Ohne dem hoch geschätzten Kollegen Burnston in seinen Ausführungen zu nahe treten zu wollen, muss ich wiederum sagen, dass ich sowohl als Carnivor als auch als meeresaffiner Mensch ganz und gar erschüttert bin von der grausiggemeinen Zärtlichkeit, die Sie da vor allem in den letzten Sätzen ausbreiten. Es wird einem kalt, wenn das liest.
Mukono - 12. Dez. 2005, 18:57 Uhr

das ist wahrlich grauselig

Madame Modeste. Was dafür spricht, dass es wieder einmal gut geschrieben ist. Ich wurde an den herausragenden Schauspieler Ullrich Wildgruber erinnert. Kennt den jemand noch? Vor ein paar Jahren lief der herzkranke Mann mit Hut und Mantel einfach ins kalte Meer. Immer weiter. Irgendwann wurde er tot ans Land gespült.
tarsius p. - 12. Dez. 2005, 19:13 Uhr

Schritt für Schritt, die Füße immer leichter... - wie lässt sich
Ausgeliefertsein besser fühlen?
Wunderschön!
Das einsame Sterben in den Wellen... DAS ist der Biss ins Fleisch.
(immer ziehender wurde das Meer / würde das Meer...)
Über die Schmerzgrenze sind sich Phantasie, Sehnsucht und Erfahrung
hier nicht ganz einig. Aber das ist erlaubt - es ging ja ums Aufwachen.

Und da wir gerade schwelgen.. ein Vers, nur so, von
einem berühmten Traurigkeitsexperten.

"(...) Schweig, Herz, gib dich in dumpfem Schlaf gefangen!
Geschlagner Geist, besiegter Tunichtgut,
Die Lust an Streit und Liebe ist vergangen,
Lebt, Flöten, wohl, und Saiten, die verklangen!
Versuch nicht, Lust, dies trotzig trübe Blut! (...)"
Frau Klugscheisser - 13. Dez. 2005, 0:15 Uhr

Nicht grausig, sondern sehr lebensnah scheint mir dieses kleine Stück beschriebene Sehnsucht. Zwar kann ich nicht beurteilen, in welcher Stimmung es geschrieben, so doch zwischen all den Zeilen eine Versöhnlichkeit mit dem Tod und damit dem Leben empfinden.
Nicht nur einmal glaubte ich mich im Wasser so geborgen, dass ich es beinahe atmen wollte, obwohl mein Kopf mir sagte, dass dies den sicheren Tod nach sich ziehen würde. Versucht habe ich es allerdings nie, sondern brav weiter aus der Flasche geatmet.
che2001 - 13. Dez. 2005, 9:00 Uhr

Bis zum Augenblick des Hinausgehens in die Mitte des Meeres erinnerte
mich das an ein eigenes Erlebnis, ein nächtliches Bad im Atlantik bei
Lacanau in der Nähe von Bordeaux, bei dem die mächtigen Wellen mich
hinauszutragen drohten. Dann aber dieser grausliche, zwischen Poe und
Lovecraft angesiedelte Schluss - brrrrr!!!!
Meisterlich geschrieben, Chapeau!
Modeste - 13. Dez. 2005, 12:57 Uhr

Tja, Herr Burnston, sonnig ist was anderes, da haben Sie schon recht, und wer's lieber ein bißchen netter hätte, muss morgen oder übermorgen schauen, dann wird es wieder herziger. Wem es trotzdem gefällt, Herr Rationalstürmer, Herr Che und Herr Mukono, über den freue ich mich natürlich besonders. Wie Sie sicherlich schon festgestelt haben, ist der Text eine Art Nachtrag zu diesem Text, passte in den Kontext aber nicht so gut und steht deswegen jetzt für sich.

Für Baudelaire, Herr Tarsius, habe ich ja ein großes Faible, zum Text passen, will mir scheinen, die Zeilen aber nicht so ganz. Hier geht es ja nicht um ein resignatives Zurücklehnen, sondern um etwas ganz anderes. Das trügerische Gefühl der Geborgenheit, Frau Klugscheisser, mag da eine Rolle spielen, allein, da ist sicher noch etwas anderes dabei.
kid37 - 13. Dez. 2005, 20:53 Uhr

Beware of the UNDERTOAD heißt es bei Irving. Denn nur Kummer treibt immer oben. Dem Urgrund des Meeres, näher mein Gott zu dir, sich anvertrauen, abzusinken, sich hinzugeben. Und vielleicht nur noch als "Abfall der See" wiederzukehren und möglicherweise nicht einmal geläutert oder gar wieder/getauft.

Zeit für eine Renaissance, ehe die Sirenen oder feucht-feiste Nixen ein um den anderen Fahrensmann zum Grunde locken. Ein schöner Text. Ich wage es jedes Jahr im Atlantik. Aber die Wellen wollen mich nicht. Ich habe noch zuviel Kraft.
King Fisher - 14. Dez. 2005, 0:30 Uhr

Wirklich beeindruckend, was und vor allem wie Sie das schreiben, Frau Modeste. Ich wünsche mir manchmal, wenigstens in annähernder Qualität kommentieren zu können, womit ich hier nun wieder eindrucksvoll gescheitert bin. Sei's drum. Erinnerungen wurden wach, wenn auch nur schemenhaft.
Modeste - 14. Dez. 2005, 2:52 Uhr

Mag sein, dass das Auftauchen aus den Meeren, in denen wir fahren, Herr Kid, nicht auf unserer Stärke beruht, sondern die, die mit scharfen Zähnen auf uns warten würden, uns schlicht nicht wollen. Oder noch nicht wollen.

Und vielen Dank an Herrn King Fisher.
che2001 - 14. Dez. 2005, 8:48 Uhr

Meine einzige Begegnung mit einem Weißen Hai - im Roten Meer war´s, und
ich zeigte alle nur denkbaren Zeichen von Panik, verhielt mich so falsch, wie man es nur
tun kann - sagte mir, dass sie uns wirklich nicht wollen. Bei all dem leckeren Aal,
Lachs, Thun- und Tintenfisch eigentlich keine Überraschung.
wortschnittchen - 14. Dez. 2005, 9:11 Uhr

Mitunter kommt es mir so vor, als lauerte der Sog ebenso auf Land. Sich Treibsand zu ergeben mag auch sehr verführerisch sein.
Modeste - 15. Dez. 2005, 0:59 Uhr

Mancher Treibsand scheint ja golden, und mancher ist es vielleicht sogar.
Au-lait - 14. Dez. 2005, 9:19 Uhr

Nur wenige Kilometer weiter steht ein Mönch. Er kann auch ein Philosoph sein. Die Geschichte widerspricht sich da. Er hat einen knochenfreien Streifen Strand erwischt. Ohne Anhaltspunkt wie groß er und das Meer sind, starrt er hinaus auf die dunkle See, bewandert die kaum konturierten Wolkengebirge am Horizont. Es ist, als wolle er hinüber, doch verirrt er sich in der Unfasslichkeit der Unendlichkeit und bleibt doch nur, wo er ist. Unweit von ihm werden Knochen an den Strand gespült, schlagen Wellen über Köpfen zusammen, an seiner Stelle schwebt der Sog über den Wellen, die Fluten selbst, sie reizen ihn wenig.
che2001 - 14. Dez. 2005, 10:25 Uhr

Er harrt an dieser Stelle bereits seit Jahrtausenden aus, jedoch ist er nicht immer
und für jeden sichtbar. Alles Sehnen, alle Sehnsucht dieser Welt ist in ihm, und doch
ist er über den Punkt hinaus, ihr nachzugeben. Wer die Unendlichkeit selber erfasst
hat, ist jenseits dessen, was für Andere verstehbar oder zu beschreiben wäre.
Au-lait - 14. Dez. 2005, 12:48 Uhr

"Es ist herrlich, in unendlicher Einsamkeit am Meeresufer unter trübem Himmel auf eine unbegrenzte Wasserwüste hinzuschauen, und dazu gehört, daß man dahin gegangen, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und seine Stimme doch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, in dem einsamen Geschrei der Vögel vernimmt; dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, den einem die Natur tut." (Clemens von Brentano, Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner)
Modeste - 15. Dez. 2005, 1:03 Uhr

Dieser Mönch, den ich sehr mag, ist sehr, sehr weit weg von mir und dem, der da wartet.

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