Strategien zur Abkürzung des Besuchs der eigenen Eltern
„Guck mal, die da!“, stößt mich mein Nachbar mit dem Ellenbogen an. „Wo?“, frage ich leise und drehe unauffällig den Kopf hin und her. „Da drüben.“, wispert der N. und deutet auf einen langen Tisch auf der anderen Seite des White Trash. „Ein gelungener Abend für die ganze Familie.“, stichelt der N., während am Tisch nebenan Vater und Sohn die Biergläser klirren lassen.
Der ältere Mann ist kahlköpfig, ein wenig beleibt, und über einem blauen Hemd spannt sich ein kariertes Sakko. Der junge Mann dagegen sieht aus wie eine zeitversetzte Kopie, ganz so, als hätte der Vater ihn alleine gezeugt, im Wege der Parthenogenese vielleicht. Neben ihm sitzt eine ältere Frau, vielleicht seine Mutter: Eine gelbe Strickjacke, dezent geschminkt, Caprihosen und eine weiße Bluse. - „Elternbesuch.“, konstatiere ich, und wende mich wieder der Karte zu. Einen Burger vielleicht. Cheese. Oder Chili.
Die Eltern des jungen Mannes schauen sich ein wenig eingeschüchtert um. „Was hat der denen bloß erzählt, dass die hierhergekommen sind?“, fragt mein Gegenüber mehr sich als uns und schielt über seine Schulter. „Ganz netter Laden, große Portionen zu Essen, so eine Art urbaner Landgasthof vielleicht, und ein wirklich gemütliches Interieur?“, schlägt mein Nachbar vor und nimmt der Kellnerin die Gläser ab. „Danke.“, sage ich zu dem Mädchen im gepunkteten Kleid und fahre fort, die Familie am Nachbartisch zu beobachten.
Der junge Mann beugt sich weit über den Tisch und erzählt mit dem ganzen Oberkörper eine offenbar aufregende Geschichte. Aufmerksam hört ihm der Vater zu, die Mutter dagegen dreht den Kopf und lässt ihren Blick ein wenig ratlos über die blinkenen Madonnen und Chinarestaurantdekorationen schweifen. „Der gefällt’s hier nicht.“, flüstere ich meinem Nachbarn zu, während die ältere Frau ihre Handtasche ein wenig näher zu sich zieht. „Die Tasche da klaut hier garantiert keiner.“, kommentiert mein Nachbar den Vorgang. "Wahrscheinlich nicht.", stimme ich angesichts des braunen Lederungetüms mit goldener Schnalle zu, in der sich vermutlich ein zierliches Damenportemonnaie befindet, eine Packung Tempotaschentücher, ein Lippenpflegestift, ein Kugelschreiber und Bonbons gegen Mundgeruch.
Der junge Mann ist mit seiner Geschichte anscheinend fertig, denn nun beginnt seine Mutter zu sprechen, redet auf Mann und Sohn ein und schiebt ihr Glas, ein wenig ungehalten offenbar, von sich weg. „Die hat tatsächlich Wein bestellt, unglaublich.“, wundert sich mein Gegenüber. Der Wein hier, so herrscht Einigkeit, kann nur grauenhaft sein. - Die ältere Frau deutet mit der Hand Richtung Tür.
„Die wollen gehen. Der gefällt’s hier nicht.“, übersetze ich die Geste der Mutter. Der junge Mann schüttelt heftig den Kopf. „Der will noch nicht gehen.“, spreche ich weiter, damit mein Gegenüber sich nicht ständig umdrehen muss. „Jetzt gerade steht sie auf.“ – „Die geht doch nicht alleine nach Hause.“, weist mein Nachbar die Vermutung zurück, die Mutter könnte das White Trash allein verlassen. „Nein, der Vater kommt bestimmt mit.", sage ich, und schon steht der ältere Mann auf, trinkt sein Bier mit einem langen Zug aus und lässt einen Schein auf dem Tisch zurück. Die Mutter redet weiter auf den Sohn ein. Dieser bleibt beharrlich sitzen.
Schließlich verschwinden Mutter und Vater ohne Nachwuchs. „Noch ein Bier!“, ordert der junge Mann am Nachbartisch, lehnt sich zurück, fängt an, zu telefonieren, und steckt sich eine Zigarette an.