Madeleine
Eine Madeleine in Lindenblütentee, nein: eine Plastiktüte, gepackt von der Küche des Hotels, gefüllt mit Früchten und dick belegten, weißen Semmeln. 2007 haben wir, der Zug fährt mich von Karlsbad nach Usti nad Labem, und fährt doch rückwärts, fällt von diesem Jahr in ein anderes, früheres, und 1989 sitze ich in einem anderen Zug, zwischen anderen Städten, und nicht allein sitze ich in dem Abteil auf rotem, etwas abgeriebenem Cord. Neben mir liegt nicht eine Plastiktüte, sondern ein grüner Rucksack, mit Edding haben längst versunkene Schulfreunde ihre ungelenken Namenszüge auf den Kunststoff geschrieben, aber der Geruch, dieser Geruch von warmen, atmenden Früchten und belegtem Brot steigt hier wie dort aus den offenen Taschen zu mir auf.
Kühl und blau zieht Böhmen an mir vorbei. Kleine Städte, gesäumt mit den Resten verfallender Fabriken, rostendes Metall. Melancholie einer verwesenden Moderne, und ein paar gellgeschminkte Frauen am Gleis mit billigen Kopien von Taschen, deren Original man hier nicht einmal kaufen kann, so weit weg ist der Wohlstand, der kommen sollte, und nicht gekommen ist. - „Ihr Fahrschein, bitte.“, streckt die blauuniformierte Schaffnerin mir ihre Hand entgegen.
Einen eigenen Fahrschein brauche ich nicht, 1989, denn nicht ich, sondern Frau S., die Chorleiterin, kramt in ihrer riesigen, schwarzen Handtasche nach dem Gruppenfahrschein für uns alle. Ich sitze ihr gegenüber. Frau S. mag mich nicht, und nicht ihretwegen habe ich mich als letzte in das Abteil gedrängt, aber der G., der lange, hochaufgeschossene G., der ebenso gut singen wie rudern kann, sitzt ihr gegenüber und spricht über Händel und Brahms. Halblaut beugt er sich weit nach vorn, spricht knapp und konzentriert mit einer Gemessenheit, die seinen siebzehn Jahren voraus zu sein scheint, und die ihn selten verlässt. Nicht an mich wendet er sich. Mich kennt er nur als die Freundin der N., die als verrückt gilt, als schön, obwohl keiner sagen kann, was eigentlich das Schöne an ihr ausmacht, und als so hemmungslos, das niemand zu wissen glaubt, was sie in fünf Minuten oder in fünf Jahren zu sagen oder zu tun beliebt. Sehr höflich und freundlich ist der G. zu mir. Immerhin bin ich die beste Freundin des Mädchens, das er vergeblich liebt, und dass die N. ihn auslacht, nimmt er weder ihr noch mir, der widerwillig Mitlachenden, übel.
Dass sich niemand in mich verlieben wird, wenn die N. daneben sitzt, ist so selbstverständlich, dass ich es nicht einmal bedaure. Keine Sekunde nehme ich an, der G. sei auch für mich zu haben, und so laufe ich ihm hoffnungslos hinterher, unauffällig, halte Abstand und schielen nur ein bißchen, nur so aus den Augenwinkeln, wenn er in einer Gruppe auf einer Party steht, am Rande des Chorraumes mit den anderen guten Sängern über Chorwerke spricht, und melde mich nicht einmal, als er einmal in der Pause ins Blaue fragt, ob jemand mitkäme zu Schönbergs Lulu in der dreißig Kilometer entfernten Stadt, denn nicht ich bin es, auf dessen Begleitung er hofft.
Zu schöngeistig sei ihr der G., lacht die N. und küsst statt seiner viele andere. Ein Tenor sei kein Mann, sagt sie so laut, dass er es hören muss, und aufschaut, errötend und betroffen. Tenor bleibt er trotzdem, einer der besten Sänger des Chores, dem ich keine Zierde bin, und auch die N. singt weiter ihren etwas gläsernen Sopran.
Auf dieser Zugfahrt aber ist sie nicht dabei. Ihr Vater hat sie zwei Wochen vor den Ferien vom Unterricht befreien lassen, um mit ihr und ihrer kleinen Schwester in Urlaub zu fahren. Etwas verloren fühle ich mich, ein wenig einsam ohne beste Freundin, und plaudere tapfer vor mich hin. Seitlich, fast schon außerhalb meines Gesichtsfeldes aber, geht der G. zum Waggon, unterhält sich mit Frau S., die er weit überragt, und streicht sich ab und zu die Haare aus der Stirn. In einigen Metern Abstand folge ich.
„Ist hier noch frei?“, höre ich mich auf den letzten Platz im Abteil deuten, und Frau S. nickt kühl und ein wenig abwesend. Ich bin keiner ihrer Lieblinge. Sie schätzt nur die Jungen, unter ihnen nur die hochaufgeschossenen, schlanken Oberstufenschüler, und von diesen wiederum nur diejenigen, die gut singen und mindestens zwei Instrumente beherrschen.
Die Fahrt dauert lange. 2007 ist es wieder, zu meiner Rechten fließt die Elbe, und bei Bad Schandau kommt ein schwitzender, riechender Beamter durchs Abteil und fragt nach meinem Ausweis. Lange schaut er erst mich und dann mein Photo an. „Ist gut.“, sagt er, und verschwindet. Ich bin müde.
Müde bin ich auch damals, im vollen, heißen Abteil, und kaue schläfrig einen Apfel. Die anderen Chorsänger schlafen bereits. Frau S. lächelt im Schlaf ein wenig, lehnt sich sogar leicht an den G., der aus dem Fenster schaut, als sei Frau S. nicht da, und auch sonst niemand anders. Schließlich schläft auch er.
Seine Beine sind zu lang für das enge Abteil, und im Schlaf streckt er die Füße weit von sich, bis herüber auf die andere Seite. Nur ein paar Zentimeter von meinen Schuhen entfernt, zucken die Beine des G. ab und zu im Traum, und langsam, sehr, sehr langsam, strecke auch ich meine Beine, nähere mich und schiebe meinen rechten Fuß eng an den Turnschuh des G. Die Augen habe ich geschlossen, denn unabsichtlich soll die Berührung wirken, erwacht einer der Schläfer. Ich zittere, mein Puls schlägt hart und metallisch in meinen Ohren eine hastige Polka, und zehn, zwanzig Minuten, vielleicht länger, sitze ich da, jede Faser angespannt bis aufs Äußerste, und spüre dem leichten Druck und der Wärme seines Fußes nach.
Es ist nichts geworden mit der N. und dem G., und mit mir und dem G. auch nicht. Die Frau S. ist heute Rentnerin, den Chor habe ich beizeiten verlassen, aber der dumpf-säuerliche Dunst von Obst und Broten riecht noch ebenso wie einst, denn nur einige Dinge ändern sich, und viele andere bleiben so, wie sie immer waren.