Von Kindern und Mördern
Kinder, das ist bekannt, haben äußerst unangenehme Seiten. Sie stinken. Sie sind laut. Sie sagen die Wahrheit, wenn man sie nicht im Geringsten brauchen kann, sie lügen schrecklich schlecht und sind, unter anderem aus diesem Grund, sehr, sehr miese Erzähler. Ihre Geschichten haben weder Anfang noch Ende, es fehlt ihnen zumeist vollkommen an innerer Folgerichtigkeit, und die kindliche Froschperspektive - bedingt durch den fehlenden Erfahrungshorizont - führt zu vielfachen Redundanzen und ärgerlichen Längen bei der Wiedergabe von Selbstverständlichkeiten. Die Wahl eines kindlichen Erzählers für ein literarisches Werk zieht damit zwangsläufige Probleme nach sich: Eine nur halbwegs realistische Wiedergabe des kindlichen Erzählens wäre vor Langeweile nicht auszuhalten. Eine nur vorsichtig infantiler Diktion angenäherte Sprache wirkt dagegen wegen der Überlagerung erwachsener und kindlicher Sprach- und Erlebnisebenen nicht selten altklug und ein wenig künstlich dazu.
Natürlich - andernfalls gäbe es solche Bücher ja nicht - hat die Wahl eines kindlichen Erzählers auch Vorteile. Die Fiktion, der Erzähler erlebe alles zum ersten Mal, erlaubt es, das Selbstverständliche mit dem Gestus des Staunens zu erzählen, der dem Leser im besten Fall das Mitstaunen erlaubt und zudem viele Bilder ermöglicht, die einem Erwachsenen schlechthin nicht abgenommen werden, ungefähr so, wie es die Öffentlichkeit einem Dreißigjährigen eher als einem Dreijährigen verübelt, sich bei Kaisers auf den Boden zu werfen, wenn er kein Eis bekommt. Zudem erwartet der erwachsene Leser von einem erzählenden Kind naturgemäß nicht, alles Erlebte und Gesehene auch zu verstehen, zu erklären gar, oder möglicherweise in unschöne Geschehnisse hilfreich einzugreifen. Dies wiederum prädestiniert die kindliche Perspektive für das Erzählen über den Krieg aus der Position einer natürlichen Unschuld, die Gewalt erleidet, sie beschreibt, aber weder ihre Entstehung erklären muss, noch Position bezieht. Gerade eher komplexe Auseinandersetzungen wie der Krieg im früheren Jugoslawien eignen sich damit als Gegenstand des Erzählens aus kindlicher Perspektive. An ein Kind – wie Saša Stanišić alter ego Aleksandar – trägt man die Fragen nicht heran, die ansonsten der Leser dem Buch stellen würde. Wie konnte das passieren, etwa. Oder: Was ist genau geschehen? Und nicht zuletzt: Wer hat schuld?
Tatsächlich beantwortet das Buch keine dieser Fragen, ohne dass man die Antwort vermisst oder auch nur erwartet. Die Geschichte dieses mir bis heute unverständlichen Krieges wird vielmehr erzählt als eine Vertreibung aus dem Paradies, das etwas zu genrehaft, ein bisschen zu sehr märchen-, klischeebalkanhaft erzählt wird, und hier stößt man sich hart an der etwas zu putzigen Sicht des ungefähr zwölf- oder dreizehnjährigen Helden. Anfang der Neunziger Jahre, am buchstäblichen Vorabend des Schlachtens hebt die Erzählung an, und klingt doch streckenweise sehr nach den Erinnerungen sehr, sehr alter Leute, ein bißchen zu niedlich und zu pläsierlich, ein Jugoslawien wie aus der handgewebten Dekoration der Balkanrestaurants Dubrovnik, wie sie vor Jahren in deutschen Kleinstädten bunt geschmückt Ćevapčići verkauften, und auch vom Tonfall ähnelt manche Passage fast den immer etwas zu simplen Anekdoten Roda Rodas von vor dem ersten Weltkrieg. Indes: Schlecht sind die Geschichten nicht. Man hat sich schon einmal besser amüsiert, zweifellos – aber amüsiert habe ich mich schon und streckenweise sogar prächtig.
Gut gemacht – und hier bewährt sich der Blick eines kindlichen Helden – ist der Einbruch des Krieges. Wie mitten in ein folkloristisches, balkanbuntes Fest der Krieg tritt, betrunken, bewaffnet und platzend vor Unreife, und die scheinbar noch geglätteten Wogen dann doch innerhalb weniger Seiten des Buches die Idylle auffressen, verleiht dem Bösen, dem Grauen einen Körper, der es erst fassbar macht, wie der Krieg das Paradies erst überschattet und dann zerstört. Die Szenen aus der besetzten Stadt sind grell, gut gemacht, und es liegt nicht am Erzähler, dass man meint, so etwas bereits gelesen zu haben. Das 20. Jahrhundert hat an seinen Kindern keinen Kelch vorübergehen lassen.
Nach der Flucht aus Bosnien indes wird das Buch etwas – nun: lang. Dass der zunächst im Ruhrgebiet langsam heranwachsende Protagonist die Vergangenheit idealisiert, glaubt man angesichts der durchaus trist illustrierten Flüchtlingsgegenwart unbesehen. Lesen möchte man die Früchte dieser Idealisierung durch den nun schon älteren Aleksandar allerdings nicht, oder zumindest nicht in dieser Breite. Auch öffnet sich in diesen Passagen, in denen der Held in Deutschland zur Schule geht, eine gewisse Schere zwischen dem Kinderblick und dem wachsenden Alter. Die Jahre werden so schnell erzählt, dass man nicht ganz mitkommt mit dem wachsenden Erzähler, und die schon in den anfänglichen Anekdoten ein wenig nervenzerrende Naseweisheit des Kindes verträgt die Sprünge durch manche Rückblenden nicht immer. Auch die Erzählung mittels Briefen an eine sehr, sehr schattenhafte Freundin, bosnischer Flüchtling im früheren Wohnhaus in Višegrad, zieht eine Distanz des Lesers zum Geschehen nach sich, die möglicherweise absichtsvoll angelegt, gleichwohl dem Vergnügen nicht förderlich ist.
Rund immerhin endet das Buch nach rund 300 Seiten. Vielleicht etwas zu rund, wenn das Grab des Großvaters, des ziemlich demonstrativ personifizierten Jugoslawien, des Geschichtenerzählers und Parteifunktionärs, besucht wird, der auf den ersten Seiten stirbt, aber wenige Seiten später legt man das Buch (nur ein paar Stunden nach Beginn der Lektüre, der Roman liest sich leicht) mit einem gewissen Bedauern zur Seite, flankiert vom Erstaunen, dass der erhebliche Charme dieses Romans seine Mängel am Ende doch und nicht ganz wenig überwiegt.
Aber von Kindern will ich die nächste Zeit weder hören noch lesen.