Geschichte ohne Pointe
Jeden Morgen, erzählt man mir, steht die D. um 7.30 auf. Dann putzt sie Zähne. Weil die D. abends duscht, reicht morgens eine Katzenwäsche. Um 8.00 Uhr steht die D. vor ihrem offenen Kleiderschrank und überlegt, was sie anzieht. Ihr Hund Yoram schaut ihr dabei zu. Jeden Montag muss die D. wegen einer Besprechung ein bisschen früher ins Büro als sonst. Dann verschiebt sich ihr Plan eine halbe Stunde nach vorn. Dass ärgert die D., nicht nur wegen der halben Stunde Schlaf, sondern auch wegen ihm.
Von Dienstag bis Freitag dagegen trifft sie ihn regelmäßig. Er ist so circa 40 und steigt jeden Morgen in dieselbe Bahn wie die D. Er ist schon etwas grau, glatt rasiert und sehr, sehr schlank. Er sieht konservativ aus, trägt dunkle, spiegelnde Schuhe, klassische Anzüge, die teuer aussehen, und im Winter einen dunkelgrauen Mantel. Manchmal trägt er eine Aktentasche. Meistens nicht.
Wenn die D. in die U-Bahn an der Rosa-Luxemburg-Straße steigt, steht er immer schon auf dem Bahnsteig. Die D. trinkt jeden Morgen einen Latte Macchiato, den sie sich auf dem Weg zur Bahn holt. Er trinkt nie irgendetwas, und beim Essen hat sie ihn auch noch nie gesehen.
Obwohl die D. ihn jeden Morgen sieht, grüßen sie sich nicht. Einmal hat die D., als sie an ihm vorbeiging, halblaut „Guten Morgen“ gesagt, aber er hat nur kurz aufgesehen und dann wieder weg. Deshalb nimmt die D. an, dass er nicht gegrüßt werden will. Er grüßt aber auch keine anderen Leute, und während die D. in der U 2 Richtung Mitte jeden Morgen ihre E-Mails checkt, sitzt er einfach nur da und liest die ersten Seiten der FAZ. Wenn sie aussteigt, Haltestelle Stadtmitte, bleibt er sitzen.
Dass sie ihn in verliebt wäre, wäre, sagt die D., zuviel gesagt. Er interessiert sie. Wenn sie allein zu Hause ist, stellt sie sich manchmal vor, er würde klingeln. Wenn sie an ihm vorbeigeht, verlangsamt sie ihren Schritt. Ab und zu sitzt sie in der Bahn neben ihm und kann ihn riechen. Er riecht nach einem Parfum, das „Limes“ heißt, und ich frage mich für einen Moment, woher sie das weiß. Vielleicht hat sie an vielen Fläschchen gerochen, um herauszufinden, wie dasjenige heißt, das im Bad des fremden Herrn zu Hause steht.
Oft hat sich die D. schon gefragt, wo er hinfährt. Bis zum Zoo würde niemand mit der U-Bahn fahren, denn dort bringt einen die S-Bahn schneller hin. Vielleicht fährt er nur bis zur Mohrenstraße, möglicherweise arbeitet er auch am Potsdamer Platz. Dort haben viele Männer ihr Büro, die Anzüge tragen und in der FAZ lesen.
Letzte Woche, erfahre ich, ist die D. deswegen einfach sitzen geblieben. Sie ist nicht an der Stadtmitte ausgestiegen, sie hat einfach weiter ihre E-Mails gelesen, und abgewartet, wo er hinfährt. Nachgegangen, sagt sie, wäre sie ihm aber nicht. Eine Station weiter wäre sie ausgestiegen, dann wäre sie umgekehrt, mit der nächsten Bahn zurückgefahren und hätte im Büro gesagt, sie habe eine Bahn verpasst. Er aber habe ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.
„Aussteigen nicht vergessen.“, habe er ihr gesagt, ohne aufzuschauen von seiner Zeitung. Rot sei sie geworden, aber das habe er vermutlich nicht gesehen, und dann sei sie direkt eine Station nach Stadtmitte ausgestiegen. „Danke“, habe sie ihm zugerufen, als sie ging, aber er habe nichts gesagt, nur genickt, und wo er aussteigt, weiß sie immer noch nicht.
NeuBegierde - die gegenseitige Aufmerksamkeit funktioniert jedenfalls in einem gewissen Rahmen.