Zehn Jahre „Faserland“
Wir hatten sowas von nichts zu tun den ganzen Sommer. Wir lagen im Garten der Eltern eines Freundes am See, und ab und zu ging einer ins Haus und holte etwas Kaltes zu trinken. Ich lag auf dem Steg, war sogar zum Baden zu träge, und die Sonne hatte mir den Bikini strahlend weiß auf die Haut gemalt, weil ich monatelang kaum etwas anderes trug, bis die Schule wieder anfing.
Ich muss den „Mephisto“ gelesen haben, und mindestens ein Buch von W. S. Maugham, und die Erinnerungen der Lady Diana Cooper dazu, aber meine Erinnerung weiß das nicht mehr, nur in den Büchern steht auf dem Vorsatzblatt „1995“ und mein Name, weil ich damals Bücher noch Leuten auslieh, die sie dann nie zurückgaben.
Von der Ödnis der zeitgenössischen Literatur war ich so überzeugt, dass ich noch nicht einmal darüber nachdachte, und so werde ich Faserland trotz der emphatischen Empfehlungen von irgendeinem dieser längst verwehten Freunde skeptisch begonnen haben, die Füße im kühlen Wasser und langsam die Seiten umschlagend. An die Skepsis kann ich mich indes nicht mehr erinnern, nur noch an die Euphorie des Wiederfindens, die „Faserland“ bei uns allen auf dem Steg auslöste, denn es war unser eigenes Spiegelbild, unsere Traurigkeiten, der Ekel und der Überdruß und die Angst vor etwas Ungenanntem in der Gier. Vor unseren Augen wurde die Reise durch die Republik von Gosch auf Sylt bis Zürich zu einer Höllenfahrt, einem Panoptikum aus Einsamkeit und Verwesung, in dem der Tod in den Falten eines Lebens saß, das ein gutes wäre, wenn es denn nur auf die Umstände eines Lebens ankäme. Jenem namenlosen Erzähler, den Christian Kracht einen nüchtern anmutenden Bericht über eine Reise durch die übersättigte Republik schildern ließ, vorbei an der Hybris und der kalten Lust, umgeben von unendlich einsamen Menschen, waren wir durch eine Selbstreflexion überlegen, von der wir ahnten, dass sie uns nicht zu besseren Menschen machen würde, sondern nur zu abwechslungsreicherer Gesellschaft.
Das schmale Buch, keine 200 Seiten lang, war unsere Hymne, und ich las es auf der Stelle vier- oder fünfmal. Dass „Faserland“ aber unsere Sicht der Welt verändert hätte, war schon deswegen nicht wahr, weil es genau das ausdrückte, was wir schon jahrelang unausgesprochen gespürt hatten: Nicht jenseits der Gärten unserer Welt, sondern in den komfortablen Räumen unserer Kindheit und in jenen Kleidungsstücken, die eine Dauerhaftigkeit vortäuschten, die es nicht mehr geben sollte, brütete ein Untergang, dessen feine Erschütterungen wir spürten. Den Dingen unseres Lebens gab die Vorahnung dieser Vergeblichkeit ein fremdes und vorläufiges Aussehen, und dass ganz am Ende dieser Höllenfahrt in den Wassern des Bodensees nicht Reinheit und ein neues Leben wartet, sondern nur der sinnlose Tod eines Mannes, der ein „Jedermann“ sein könnte, wenn es denn Gott gäbe, erschien uns folgerichtig. Wir waren schon so weit ab von den Träumen eines neuen Lebens auf den Trümmern einer alten Welt, den unsere Eltern folgenlos geträumt hatten.
Ein Jahr später war keiner von uns mehr vor Ort.
Manchmal bekomme ich noch E-Mails von den Freunden vom See. Meistens sind es Umzugsmeldungen, und unentwegt ziehen die Freunde von einst durch die Republik. Viel weiß ich nicht mehr von ihrem Tun und Treiben, und kann nicht sagen, was sie treibt. Treffe ich den einen oder anderen, so erzählen wir uns ein wenig von unseren Leben, in denen alles da sein dürfte, was die Welt noch über ihre Lieblinge auszuschütten pflegt.
Aber zwischen den Sätzen beim Wiedersehen in Cafés, in der Stille der abgebrochenen Wortanfänge und dem kurzen Schweigen bei einem Treffen in Eile auf Flughäfen schwingt mit, dass die Welt auch jene Erwartung nicht enttäuscht hat, von denen dieses Buch einen ersten Schatten auf unsere Welt geworfen hat, die Ahnung, dass wir nicht mehr sein würden, als ein nervöses, feines Geäder auf einer langsam abgewaschenen Goldschicht, dahinter nichts als die Leere, die Einsamkeit und alle Häßlichkeit der Welt.
Ich muss den „Mephisto“ gelesen haben, und mindestens ein Buch von W. S. Maugham, und die Erinnerungen der Lady Diana Cooper dazu, aber meine Erinnerung weiß das nicht mehr, nur in den Büchern steht auf dem Vorsatzblatt „1995“ und mein Name, weil ich damals Bücher noch Leuten auslieh, die sie dann nie zurückgaben.
Von der Ödnis der zeitgenössischen Literatur war ich so überzeugt, dass ich noch nicht einmal darüber nachdachte, und so werde ich Faserland trotz der emphatischen Empfehlungen von irgendeinem dieser längst verwehten Freunde skeptisch begonnen haben, die Füße im kühlen Wasser und langsam die Seiten umschlagend. An die Skepsis kann ich mich indes nicht mehr erinnern, nur noch an die Euphorie des Wiederfindens, die „Faserland“ bei uns allen auf dem Steg auslöste, denn es war unser eigenes Spiegelbild, unsere Traurigkeiten, der Ekel und der Überdruß und die Angst vor etwas Ungenanntem in der Gier. Vor unseren Augen wurde die Reise durch die Republik von Gosch auf Sylt bis Zürich zu einer Höllenfahrt, einem Panoptikum aus Einsamkeit und Verwesung, in dem der Tod in den Falten eines Lebens saß, das ein gutes wäre, wenn es denn nur auf die Umstände eines Lebens ankäme. Jenem namenlosen Erzähler, den Christian Kracht einen nüchtern anmutenden Bericht über eine Reise durch die übersättigte Republik schildern ließ, vorbei an der Hybris und der kalten Lust, umgeben von unendlich einsamen Menschen, waren wir durch eine Selbstreflexion überlegen, von der wir ahnten, dass sie uns nicht zu besseren Menschen machen würde, sondern nur zu abwechslungsreicherer Gesellschaft.
Das schmale Buch, keine 200 Seiten lang, war unsere Hymne, und ich las es auf der Stelle vier- oder fünfmal. Dass „Faserland“ aber unsere Sicht der Welt verändert hätte, war schon deswegen nicht wahr, weil es genau das ausdrückte, was wir schon jahrelang unausgesprochen gespürt hatten: Nicht jenseits der Gärten unserer Welt, sondern in den komfortablen Räumen unserer Kindheit und in jenen Kleidungsstücken, die eine Dauerhaftigkeit vortäuschten, die es nicht mehr geben sollte, brütete ein Untergang, dessen feine Erschütterungen wir spürten. Den Dingen unseres Lebens gab die Vorahnung dieser Vergeblichkeit ein fremdes und vorläufiges Aussehen, und dass ganz am Ende dieser Höllenfahrt in den Wassern des Bodensees nicht Reinheit und ein neues Leben wartet, sondern nur der sinnlose Tod eines Mannes, der ein „Jedermann“ sein könnte, wenn es denn Gott gäbe, erschien uns folgerichtig. Wir waren schon so weit ab von den Träumen eines neuen Lebens auf den Trümmern einer alten Welt, den unsere Eltern folgenlos geträumt hatten.
Ein Jahr später war keiner von uns mehr vor Ort.
Manchmal bekomme ich noch E-Mails von den Freunden vom See. Meistens sind es Umzugsmeldungen, und unentwegt ziehen die Freunde von einst durch die Republik. Viel weiß ich nicht mehr von ihrem Tun und Treiben, und kann nicht sagen, was sie treibt. Treffe ich den einen oder anderen, so erzählen wir uns ein wenig von unseren Leben, in denen alles da sein dürfte, was die Welt noch über ihre Lieblinge auszuschütten pflegt.
Aber zwischen den Sätzen beim Wiedersehen in Cafés, in der Stille der abgebrochenen Wortanfänge und dem kurzen Schweigen bei einem Treffen in Eile auf Flughäfen schwingt mit, dass die Welt auch jene Erwartung nicht enttäuscht hat, von denen dieses Buch einen ersten Schatten auf unsere Welt geworfen hat, die Ahnung, dass wir nicht mehr sein würden, als ein nervöses, feines Geäder auf einer langsam abgewaschenen Goldschicht, dahinter nichts als die Leere, die Einsamkeit und alle Häßlichkeit der Welt.
Faserland