Erziehungsberatung

In den letzten Jahrzehnten hat ja eigentlich alles ein verhältnismäßig problematisches Gepräge angenommen, was die Menschheit bis dahin einfach so betrieben hat. Die Aufzucht von Kindern etwa. Oder die menschliche Ernährung. Oder, in ganz besonderen Fällen, beides.

Ein mir lose bekanntes Ehepaar - ein Rechtsanwalt und seine meines Wissens berufslose Frau - etwa zieht in einem der südwestlichen Vororte Berlins einen Knaben samt drei Schwestern auf. Der Knabe ist acht und besucht eine Grundschule. Diese Grundschule ist evangelisch, denn diesem Bekenntnisse hängen die Eltern an. Außer an den lieben Gott glaubt man im Hause dieser Familie an eherne moralische Prinzipien und die Verwerflichkeit des Verzehrs von Fleisch und Zucker.

Die drei Mädchen wurden mir persönlich geschildert als folgsam, unproblematisch und brav. Der Bub allerdings macht Sorgen. In der Schule sei er nicht direkt schlecht, das nicht, aber beängstigende Indizien moralischer Verkommenheit träten zu Tage, schockierende Vorfälle hätten sich ereignet: Der Junge habe gestohlen.

Zwei Mitschüler sogar habe der Bube angestiftet. Ein verschlossenes Behältnis habe man ausgekundschaftet, einen Kühlschrank nämlich, welcher in der Cafeteria der Schule stand. Ein halbes Blech Kuchen habe man aus diesem enwendet, sei damit nach Schulschluss davongefahren und habe den Kuchen zu dritt im Kinderzimmer des einen Buben ganz verzehrt. Zur Tarnung habe man das elterliche Abendessen dann trotzdem tapfer gegessen.

Die Tat blieb nicht lange geheim. Es ist nämlich nicht einfach, mit einem Blech Kuchen durch den recht verschlafenen Vorort zu radeln, ohne gesehen zu werden. Harte Verhöre schlossen sich an. Der eine angestiftete Junge darf nun nicht mehr dem verkommenen Sohn der Bekannten spielen. Der Sohn selbst gab auf Befragen zu, er habe nicht nur diese Missetat zu vertreten. Er habe auch nur wenige Tage zuvor Geld, das ihm seine Großmutter heimlich gegeben, bei real in mehrere Würstchen investiert und diese sofort mit Senf verschlungen.

Die Schwestern des Buben waren von diesem ungeheuerlichen Vergehen angemessen angewidert. Die Mutter am Boden zerstört. Weitere Nachforschungen ergaben, dass dieser Vorfall nicht solitär in der Ernährungsgeschichte des jugendlichen Delinquenten stand. Vor Monaten hatte schon die Großmutter in Nürnberg das Kind in den Ferien mit Fleisch in Form von Würsten, Schinken und Braten traktiert. Der Junge hatte auch Süßes und Kuchen im Gegenzug zum Versprechen erhalten, der ohnehin ungeliebten Schwiegertochter, der Mama, nie etwas von diese verbotenen Freuden zu erzählen.

Der Mutter war nun alles klar. Eine schnurgerade Linie führte von den großmütterlichen Würsten zum Diebstahl von Schuleigentum. Nur eine hauchdünne Linie trennte ihre Brut jetzt noch von Sittlichkeitsverbrechen und blutigem Terrorismus. Wenige Tage später suchten Mutter und Sohn eine Eriehungsberatung auf.

Es schmecke ihm nicht daheim, gab der Junge hier zu Protokoll. Er wolle Kuchen, Eis und Frankfurter essen. Die Mutter ist schockiert. Der Konflikt scheint unüberbrückbar.

g a g a - 15. Nov. 2011, 23:49 Uhr

Habe mich gerade politisch unkorrekt wie Bolle über diesen Eintrag amüsiert. Die Passage am Anfang mit der Formulierung "meines Wissens berufslose Frau", da ist ja quasi schon Polen offen. Die berufslose Frau ist immerhin sorgende Mutter ihrer vier Nachkömmlinge. Und sich dann noch auf die Seite der ernährungsphysiologisch ungebildeten Großmutter schlagen. Ich freue mich schon auf empörte Kommentare. hihi
walküre - 16. Nov. 2011, 11:17 Uhr

Die gute(?) Frau tät besser daran, sich in Ernährungsfragen fortzubilden, dann käme sie nämlich schnell dahinter, dass Kinder speziell in Wachstumsphasen Proteine in Form von Fleisch benötigen, ganz egal, ob dies ins Familienkonzept passt oder nicht.

Die geschilderte Familie erinnert mich im Übrigen aufs Unangenehmste an
"Das weiße Band".
Talakallea Thymon - 16. Nov. 2011, 11:54 Uhr

Ich finde, man müßte sich erst dann Sorgen machen, wenn sie den unbewachten Kuchen stehen gelassen hätten. Kuchen steht Kindern zu. Das wissen die auch, das ist angeborenes Wissen. Deswegen nehmen sie ihn sich einfach. Weil es ihr gutes Recht ist.
Weberin - 16. Nov. 2011, 14:10 Uhr

Ich nehme an, sie lieben Katzen und sollte ich eine Weile in diesem Blog stöbern (was ich nicht zu tun gedenke!), würde ich auf mindestens ein Epitaph für eine Katze stossen. So sind die Menschen verschieden. Und das ist wohl auch gut so.
zahnwart - 16. Nov. 2011, 17:38 Uhr

@walküre: Äh, nein. Proteine in Form von Fleisch brauchen Kinder ganz gewiss nicht. Sie brauchen Proteine, aber wie sie die bekommen, da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ganz grundsätzlich finde ich, dass es Dümmeres gibt, als dem Kind früh beizubringen, dass Fleischverzehr nicht zwingend notwendig ist - ob das nun aber mit Argumenten passiert oder mit einem schlichten "Fleisch gibt's nicht, Basta!", darüber müsste man nochmal nachdenken. (Und darüber, ob das Kind offen für die Argumente wäre, natürlich auch.)

Irgendwie sind bei dieser Geschichte alle die Unsympathen. Die mutmaßlich berufslose Frau im Vorort, klar. Die Schwiegermutter gleich nochmal, ich meine, das Kind mit Wurst mästen und hintenrum verlangen, dass es der Mutter nichts sage, gehts noch? Und schließlich das Kind. Klauen nämlich ist auch nicht okay, so.

Andererseits, Kuchen. Ich tendiere zu Talakallea Thymon: Kuchen steht Kindern einfach zu.
kittykoma - 16. Nov. 2011, 18:30 Uhr

Äh, nein. Proteine in Form von Fleisch brauchen Kinder ganz gewiss nicht. Sie brauchen Proteine, aber wie sie die bekommen, da gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Ja, sie könnten zum Beispiel den Nachbarn benagen. Die Öhrchen sollen sehr proteinhaltig sein.

Das erinnert mich an die Freundin meines Kindes. Essenseinladungen sagte sie gundsätzlich erst zu, wenn die Frage "Gibts Fleisch?" bejaht wurde. Zu Hause gab es nämlich keines. Die Mutter beklagte auch des öfteren, daß die Kinder ihren Kuchen nicht essen. Er war einfach nicht süß genug und zu vollkornhaltig, da ließen sie ihn stehen
julian_kay - 17. Nov. 2011, 6:30 Uhr

Ein grandioser Text! Vielen Dank!
mark793 - 17. Nov. 2011, 10:58 Uhr

Geschieht der Krampfhenne von Mutter ganz recht. Bei so einer Diät wäre ich schwerkriminell geworden, Terrorist, ach was sag ich, Kriegsverbrecher.

Und natürlich halte ich mein Töchterlein nicht krampfhaft fern von all den Verlockungen. Damit macht man das alles doch nur über Gebühr interessant. Neulich warf die Kleine einen Lutscher nach paar mal Lecken in den Müll mit den Worten "iiih, der schmeckt ja total künstlich!" Da war ich doch einigermaßen baff.
Dazlious - 19. Nov. 2011, 16:41 Uhr

Ich schmeiß mich weg!
Wunderbar geschriebener Text, der die "Ungeheuerlichkeit" des Verbrechens aufs Beste wiedergibt.
arboretum - 20. Nov. 2011, 9:34 Uhr

Es kann auch nicht jedes Kind mit seiner Überzeugung vereinbaren, totes Gemüse zu essen. ;-)
teacher - 21. Nov. 2011, 20:31 Uhr

Das Dilemma aus meiner Sicht:
Erziehung bräuchten, wie nicht selten, die Erwachsenen. Aber in der Schule habe ich die ge/verstörten Kinder - und die uneinsichtigen Eltern beklagen sich über die unfähige Schule.
Also: Kuchen und tote Tiere für alle!
docbuelle - 24. Nov. 2011, 10:24 Uhr

Kuchen-Versuchung

"Das weiße Band", eindeutig; und: ich delektiere mich an diesem Text, wie der kleine Junge sicher an seinem Kuchen.
Das ist das ganze Dilemma, dass kleine Kinder relativ hilflos den Neurosen ihrer Mütter ausgeliefert sind, da sie, die Mütter, keiner Arbeit nachgehen müssen und neben ihren Terminen (Yoga, angtsfrei Kochen, Pilates, Kirchenchor, Häkeln ohne Garn, Denken mit niedrigem CO2-Footprint) ihr ausgeprägtes Distinktionsbedürfnis an den Kindern befriedigen können.
JoeKotsch - 1. Jan. 2012, 21:56 Uhr

also, etzertla horch a mol,

wenn der bou bei seiner oma in närmberch war,

wos solln der dann essn, bradwärschdla, schäuferle mit glöss und gelbworschd!

nix ander gibds ned,

und alle sin gross gworn

wenn i su nous schou, ausgstorbn is närmberch no ned

nix fuer unguud!
Modeste - 1. Jan. 2012, 23:45 Uhr

Das hatte die Mama offenbar nicht auf der fettarmen Pfanne. Es kann halt nicht jeder so gut über die Gewohnheiten der Franken informiert sein wie wir.

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