Lob der Berliner Freundlichkeit
Berlin leuchtet. Schräg hinter meinem Begleiter spiegeln sich Sonne und Spree in den Fensterfronten des Jakob-Kaiser-Hauses, und jeder, dem ich schon einmal die Hand geschüttelt habe in den letzten Jahren, strahlt und winkt mir im Vorbeilaufen zu, als überbringe er mir und dem Rest der Welt eine ganz besonders freudige Botschaft. Mit vollem Mund, vor mir einen Teller Tagliatelle mit Lamm und Kirschtomaten, winke und lache ich zurück. Das Leben ist schön am Freitagmittag, und Berlin ist es besonders. Mein Gegenüber jedoch sieht das grundlegend anders.
„Das Wetter. Der Dreck Und diese Unfreundlichkeit“, mäkelt er mit einem ganz, ganz langen „U“ an der nun auch schon wieder seit mehr als zehn Jahren neuen Heimat herum und vergleicht wortreich Berlin und Bonn: Berlin verliert immer. - In Bonn, so höre ich, habe sich noch jeder gekannt. Berlin dagegen sei viel zu groß, und zudem seien die Berliner heillose Fälle: Die Kellner schweißstinkend und ruppig, die Verkäuferinnen barsch, fett und ungepflegt, und das Fräulein auf dem Amt langsamer als eine fußkranke Weinbergschnecke. Außerdem sei das Berliner Essen notorisch schlecht.
„Man muss ja nicht im Eisbein-Eck essen.“, verkneife ich mir meine Meinung über die insgesamt ganz gute Berliner Gastronomie, denn die Freunde des ehemaligen rheinländischen Regierungssitzes von den Vorteilen ihrer Umsiedlung an die Spree zu überzeugen, ist – wie vielfach erfahren – von vornherein sinnlos. Wozu also, denke ich mir, die Berliner Sommer loben, die die langen, grauen, widerlich kalten Winter doch mehr als wettmachen. Warum darauf hinweisen, dass Metropolen stets dazu neigen, lauter, chaotischer und dreckiger zu sein als ein niedliches Universitätsstädtchen in der Provinz, in dem sich ganz bestimmt gut leben lässt, wenn man sich auf Erden in erster Linie für den Bau eines Eigenheims und die Vorgartenpflege interessiert? Und dass es nutzlos ist, diesem Herrn vorzuhalten, dass die Berliner Unfreundlichkeit ein Mythos ist, ein nie real gesichteter Wolpertinger des Stadtlebens, liegt dermaßen auf der Hand: Ich schweige also und esse.
Tatsächlich verhält es sich nämlich so: Die Berliner sind charmant. Die Taxifahrer der Stadt machen ihren Kundinnen überraschend poetische Komplimente zu schönen Haaren, Augen und Zähnen, verschenken türkisches Konfekt oder Mozartkugeln, schalten Taxameter aus, wenn sie sich verfahren haben, und selbst wenn sie kein Wort deutsch sprechen, weil sie mit der Lizenz von sonst wem unterwegs sind, sind sie zum Ausgleich fast ausnahmslos sehr, sehr nett. Wenn sie komische Ansichten über Gott und die Welt haben, äußern sie sie wenigstens ziemlich putzig.
Die Berliner Verkäuferinnen sind so gut wie alle wahnsinnig freundlich. Ziemlich oft haben sie zwar keine Ahnung, weil gerade die hübschen Mädchen in vielen Boutiquen verkleidete Studentinnen sind, die weder das Sortiment kennen noch wissen, wo irgendwas ist, aber nett und gutartig und mit einem Sack guter Laune zwischen den Waren stehen. Manchmal hat man sogar Glück wie gestern auf der Sonnenbrillenjagd am Hackeschen Markt, wo die blonde, freundliche, sehr gepflegte und ausnahmsweise wirklich kompetente Verkäuferin mir eine Sonnenbrille hinhielt, auf die ich selber nie gekommen wäre: Die Brille sah großartig aus. „Die sind diese Woche alle runtergesetzt!“, pries die Verkäuferin die sehr, sehr überzeugende Preisgestaltung für das gute Stück, verkaufte dem J. noch eine braune Ray-Ban und applizierte meinem ziemlich kurzsichtigen geschätzten Gefährten als Draufgabe ein paar Dailies.
Sogar beim Bäcker, wo am Sonntagmorgen der ganze Prenzlauer Berg in der Backstube neben dem Café seine Semmeln kauft, bleiben die Verkäuferinnen nett. Selbst wenn man zum wiederholten Mal in Folge Bargeld vergisst und deswegen versucht, € 2,30 mit Karte zu zahlen, gibt es keine bösen Blicke, sondern nur den Vorschlag, den Kuchen des nächsten Kunden mit der Karte mitzubezahlen, und der gäbe einem dann das Geld. Der nächste Kunde, ein mittelalter Pseudobrite in Cord und Tweed wiederum offeriert, mir die Semmeln zu schenken, und nach einigem Hin und Her nehme ich an. Als Dankeschön gebe ich ihm den Lolli, den mir der Fischmann vom Kollwitzmarkt allwöchentlich in die Hand drückt.
Aus dem KaDeWe komme ich vor zwei Wochen mit genug Pröbchen für eine ausführliche, zur Stunde noch nicht abgeschlossene La Prairie vs. Elizabeth Arden-Testreihe. – im Schuhgeschäft Orlando nimmt die Schuhverkäuferin eine ganze Schaufensterpuppe auseinander, weil mir ein Rock mit Satinpasse in taupe noch besser gefällt als die dieses Jahr leider total unüberzeugenden Schuhe, und er anders von der Puppe irgendwie nicht abgeht. - Weinhandlungen verlässt man oft mehr als nur ein bisschen angetrunken, weil die Händler einem außer den Weinen, von denen man einen kaufen will, einen Cava einschenken, um auf das Wochenende anzustoßen, oder einen Eiswein, damit man sich mit ihnen an diesem großartigen und nach Ansicht von Weinhändlern vielfach unterschätzten Produkt freut.
Ganz generell: An Berliner Türen klopft man eigentlich nie vergebens. Ich weiß nicht, wie man beschaffen sein muss, um irgendwo nicht reinzukommen, gleichgültig, ob man da etwas zu suchen hat oder nicht. Die Berliner Clubs sind die demokratischsten der Welt, und völlig egal, in welchem Restaurant man anruft, nie sind die Mädchen am Telefon überheblich, und selbst ein so wahnsinniges Unterfangen, wie am Samstag um fünf zu versuchen, im Grill Royal um acht einen Tisch zu bekommen, funktioniert entweder, oder es tut der Frau am anderen Ende des Telefons wirklich leid. Nächstes Mal wieder, Frau Modeste.
Überhaupt sind die Berliner Kellner super. Die meisten haben keinen Schimmer, ob man von rechts oder links serviert, ab und zu schwappen Cocktails beim Versuch, das Glas abzustellen, überraschend einfach über, sie duzen die konsternierte, steinalte Oma des J., vergessen manche Bestellungen oder bringen einem irgendetwas, was man garantiert nicht haben wollte, verzählen sich bei der Anzahl bestellter Austern („verdammt – das sind ja echt nur elf!“), aber man käme sich kleinlich vor, nähme man übel. Tatsächlich ärgert man sich nur ganz, ganz selten. Ich habe keine Ahnung, wie es zu den Testberichten im Netz oder im Gault Millau kommt, in denen diesem oder jenem Laden die Arroganz seiner Kellner vorgeworfen wird: Ich habe in sieben Jahren nichts am 103 auszusetzen gehabt. Ich bin weder rund um den Gendarmenmarkt noch vor und hinter der Weidendammbrücke jemals anders als herzlich bedient worden, und die Reaktion auf jede Panne, vergessene Bestellungen oder ausgegangene Getränke war stets ehrliches Bedauern und meist ein Versuch der Kompensation: Der Whiskey in der Bebel-Bar, von dem nur noch so wenig da war, dass mein Begleiter einen zweiten, anderen dazu bekam. Der falsche Champagner meiner Freundin C., die als Ausgleich (das richtige Getränk war nicht mehr da) drei Schälchen mit Finger Food erhielt. Die vermeintliche Störung in der Victoria Bar durch eine Veranstaltung, die dem J. und mir ein paar Teller mit irgendwas Leckerem drauf bescherte, und ab und zu die schiere und anlasslose Nettigkeit, wie der völlig überdimensionierte Lammfleischberg des J. im Paris Moskau letzte Woche, als der geschätzte Gefährte beschloss, das – wirklich empfehlenswerte – Jubiläumsmenü um einen weiteren, mehrfach an uns vorbeigetragenen Gang zu erweitern.
„Ich mag die Stadt.“, sage ich daher und lege die Gabel auf den Teller. Sofort kommt der Kellner und räumt ab. „Ich lebe lieber in meiner Stadt als in ihrer.“, hätte ich sagen können, aber schweige und rauche, und sehe der Stadt zu, wie sie rechts und links der funkelnden Spree atmet und lächelt und glänzt.
Und "In Bonn, so höre ich, habe sich noch jeder gekannt. " ist Anlass genug für eine weite Flucht. Ich will, bitte, nicht gekannt werden.