Schönen Tag
"Oha.", sage ich und schüttele den Kopf. Die ausgestreckte Hand mit dem Zettel bleibt in der Luft stehen. "Vermieterterror stoppen! Wir bleiben alle!", steht auf dem Flugblatt, das offenbar die Thesen von Menschen verbreitet, die etwas gegen die marktwirtschaftlichen Gesetze der Preisbildung bei Wohnungen haben.
Den Jungen mit den Flugblättern schaue ich flüchtig an. 19 oder 20 wird er sein, vermutlich Student, schwarzgefärbte Haare und schlechte Haut, schöne Augen, aber die Hände könnten gepflegter sein und das T-Shirt nicht ganz so verwaschen.
Schnell gehe ich weiter. Ich missbillige solche Bestrebungen, wie sie der Junge vertritt. Ich habe mich sehr wenig mit diesen Dingen beschäftigt, weil ich mich für Politik nur eingeschränkt interessiere, aber ich argwöhne, dass sich der Missmut solcher Leute irgendwie auch gegen mich richtet, denn wenn man möchte, dass keine Alteingesessenen durch Zugezogene verdrängt werden, dann meint man vermutlich, dass in meiner Altbauwohnung im Bötzowkiez nicht der J. und ich wohnen sollen, sondern die Ostberliner, die hier früher irgendwann mal gewohnt haben, und die ich gar nicht kenne. Das wiederum würde bedeuten, dass ich ja irgendwo anders wohnen müsste, dabei gefällt es mir da, wo ich bin, extrem gut. Auch abseits meiner persönlichen Abneigung, den Prenzlauer Berg wieder zu verlassen, ist mir ziemlich schleierhaft, wieso es ein Recht auf Fortsetzung von Mietverträgen zu trotz Sanierung unveränderten Konditionen geben soll, nur weil jemand immer schon da war. Dass etwas schon immer so war, ist kein überzeugendes Argument dafür, dass es sich auch künftig nicht ändern solle.
Mit den Tiraden von Leuten, die aus kulturellen Differenzen moralische Überlegenheiten ableiten, beschäftige ich mich schon aus Prinzip nicht. Das ist mir zu gehässig. Ich habe registriert, dass die Gehässigkeit eher auf Seiten der sogenannten Gentrifzierungsgegner zu liegen scheint, jedenfalls habe ich umgekehrt noch keinen Schwaben anti-ostdeutsche Parolen dreschen hören, aber ansonsten finden diese Debatten weit weg von mir statt, die ich im Übrigen auch überhaupt keine Leute kenne, die so aufgeregt-unschöne Worte wie "Vermieterterror" benutzen.
"Schade. Schönen Tag noch!", grüßt der Junge mich auch ohne Flugblatt freundlich und wartet auf den nächsten Passanten. "Man kann doch nicht mit 20 schon dafür sein, dass sich nie etwas ändert.", liegt es mir auf der Zunge, aber dann sage ich nichts. "Viel Spaß und viel Veränderung.", würde ich ihm fürs Leben wünschen, aber das würde er nicht verstehen. So sage ich gar nichts. Außer: "Schönen Tag."
(Ich will hier kein Faß aufmachen, aber eine sozial ausgewogene Stadtentwicklung betrifft uns alle. Einkommensgeschichtete Ghettos kann sich niemand wünschen wollen, diese Spannungen bekommt eine Stadt nicht mehr in den Griff. Selbst in Hamburg scheint man das langsam zu erkennen und versucht dies neuerdings z.B. über die Bau- und Nutzungsordnung zaghaft zu regulieren.)