Mittwoch, 27. April 2005

Die Buchhändlerin

Meist am Freitag kam ich an der „Bücherstube“ vorbei, zwischen Uni und Innenstadt gelegen. Die Bücherstube war winzig klein, ein langer, dunkler Raum mit kleinem Schaufenster, das stets mit Bücher dekoriert war, von der die Hausherrin gewusst haben muss, dass die Werbewirkung eine sehr zweifelhafte sein würde. Auf kleinen Pappkärtchen neben den Büchern hatte die Besitzerin stets ein paar einführende Worte zu dem jeweiligen Werk notiert, deren Zusammenstellung von Tagesereignissen und dem Lauf des Jahres bestimmt war.

Vor der Tür standen zwei Kartons mit alten Büchern, einer mit solchen für zwei Mark und einer mit Taschenbüchern, die man schon für eine Mark bekam. Die Auswahl der feilgebotenen Bücher in den wandhohen, honigfarbenen Kieferregalen war mehr vom Geschmack der Buchhändlerin als von merkantilen Überlegungen geprägt, und so kam es, dass ihre wenigen Kunden ihr nicht nur von Angesicht sondern sogar mit Namen bekannt waren.

Der Freitagsbesuch bei der Bücherstube wurde zu einem der ersten Rituale in jener westfälischen Stadt, in die die ZVS mich zu verfrachten die Güte hatte. Die Buchhändlerin hatte so gut wie nichts vorrätig von meinen angestrebten Leseerlebnissen, musste alles bestellen und bot ab und zu statt dessen Werke von Christa Wolff an, schenkte mir sogar einmal ein Buch von Gudrun Pausewang, die nicht nur brutale Kinderbücher geschrieben hatte, sondern zumindest damals auch versuchte, Erwachsene mit ihrer literarischen Tätigkeit zu belästigen.

Manchmal, gerade samstags beim Abholen der bestellten Bücher, waren noch andere Kunden da, ein Ratsherr der Grünen, ein paar Lehrer, ein paar Universitätsangehörige, und diskutierten miteinander ruhig und in schleppendem Tonfall über Politik und Literatur. Die Buchhändlerin brühte Tee auf, auch ich bekam einen emaillierten Becher in die Hand gedrückt, und setzte mich mit an den Kassentisch, der eigentlich ohnehin bloß ein alter Esstisch war, da die Buchhändlerin sowieso keine Kasse hatte.

„Haben sie Kinder?“, fragte ich die Buchhändlerin einmal. Sie verneinte. Einen Mann gab es in ihrem Leben auch nicht, abends sah ich sie ab und zu in dem einzigen Programmkino der Stadt oder auf einer Lesung, meist allein. Manchmal, wenn ich mir die frisch erstandenen Bücher in die Tasche gepackt hatte und den Laden verließ, tat mir die Buchhändlerin leid und ich stellte mir vor, wie eines Tages einer der Lehrer oder ein ganz neuer Kunde in das Geschäft kommen würde, und sich in die hochgewachsene Frau mit den glatten, langen Haaren verlieben würde.

Später, als ich längst nicht mehr in dieser Stadt zuhause war, und gelegentlich dort einmal Freunde besuchte, war ich noch einige Male in jener Buchhandlung. Die Buchhändlerin kam mir stets entgegen, fragte mich nach meinem Werdegang, meinem Freund, den neuen Städten und auch, was ich gelesen hätte. Es tat sich eine Menge in jenen Jahren. „Sie müssen ein aufregendes Leben führen.“, sagte die Buchhändlerin einmal zu mir, und ich fragte mich, ob sie mich beneide oder bedauerte.

:::

Seit drei Jahren bin ich nun schon in der gleichen Stadt. Am Morgen stehe ich auf, esse Müsli und lese ein bißchen in der Zeitung. Dann arbeite ich, am Abend gehe ich aus. Nachts schlafe ich alleinm und denke manchmal an die Möglichkeit, dass sich das nicht mehr ändern wird, und dass dieses Leben mein Leben sein wird, bis ans Ende meiner Tage.


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