Dienstag, 17. Mai 2005

Sic transit

Die Vergänglichkeit, so sagt man, beschäftigt den alten Menschen naturgemäß mehr als den jungen. Nicht nur das weitere Schicksal unserer unsterblichen Seele, sondern auch die Frage, welche künftigen Wege jene irdischen Besitztümer nehmen, die uns teuer sind, stellen auf dem Wege zum Grabe indes Umstände dar, an die gerade ein seit 15 Jahren verwitweter kinderloser Greis von über achtzig Jahren mit Bangen denken mag, und anders ist jener Vorfall des mir ansonsten ziemlich unbekannten Onkel H. auch gar nicht verständlich.

Den Onkel H., ein Vetter meiner Großvater oder so, hatte ich zuletzt auf der Beerdigung meines Großvaters gesehen, damals noch in Begleitung seiner Gattin, und nach jenem letzten gemeinschaftsstiftenden Ereignis der Großfamilie vollkommen aus den Augen verloren. Mit den Jahren, so sagt man sich, sei er ein wenig wunderlich geworden, wie es denn so geht, wenn erst die Gefährtin dahinsinkt, und man sich dann auch noch mit der ganzen restlichen Sippe zerstreitet, ohne in einem ausgedehnten Freundeskreis hinreichenden Ersatz zu finden. Allein mit einer zumindest für einen Privatmann verhältnismäßig umfangreichen Bibliothek verblieb Onkel H. also in seinem Einfamilienhaus und wurde steinalt und ein bißchen komisch. Lange Jahre hörte niemand etwas vom Onkel H.

Eines Tages jedoch klingelt bei einer Person, die ich der Einfachheit halber hier einmal schlicht eine Tante nennen möchte, das Telephon, und des H. Nachbarn sind dran. Onkel H., so berichten diese, grabe seit Anfang März den ganzen Garten einmal sorgfältig um und versenke in den offenen Löchern große, schwere Gegenstände. Oha, dachte meine Tante, und rief den Onkel bei Gelegenheit einmal an. Der Onkel verleugnete sich.

„Was meint du, mit er verleugnete sich?“, frage ich ein wenig irritiert nach. „Naja,“, sagt meine Tante, „stelle dir vor, ich rufe dich an, und du behauptest, du wärest gar nicht du. Sondern deine Mitbewohnerin.“ „Ach so.“, antworte ich, und fürchte das Schlimmste für den Geisteszustand jenes Onkels, das sich dann auch sogleich bestätigen sollte: „Onkel H. ist ja leider verrückt geworden.“, meint meine Tante, und schildert den Besuch beim H. am Wochenende nach dem erfolglosen Versuch telephonischer Aufklärung.

Gegen Mittag biegt die Tante also in die Straße des Onkels ein, und sieht schon an der Ecke das Malheur: Tatsächlich besteht der ganze Vorgarten – und wie sich später herausstellen sollte: der Garten nach hinten heraus auch – aus einer planen, wüsten Ackerfläche. „Hat er dich denn ohne Probleme ins Haus gelassen?“, frage ich, und ernte die Versicherung der Tante, der Onkel sei nachgerade froh gewesen über ihr Auftauchen, und das könne er auch sein, denn einen Geistesgestörten - nicht? – könne man ja unmöglich allein lassen, der müsse unverzüglich unter Aufsicht, und dafür habe sie dann auch gesorgt.

„Woran hast du gemerkt, dass er krank ist?“, frage ich ein bißchen irritiert nach. „Die Bücher!“, trompetet die Tante, und legt die Umstände einer wahrhaft sonderlichen Regelung auf den Todesfall dar: Besagter Onkel also, bar der Nachkommen und ohne nennenswerte literaturbeflissene Bekannte, begann wohl vor einigen Jahren, um jene Bibliothek, die den Quell der Freude seines ansonsten etwas eintönigen Lebens darstellte, zu fürchten. Traurig winkten die Bücherkisten der Trödler dem Einsamen zu, vor seinem geistigen Auge wuchsen starke Männer aus dem Boden, die im Auftrage einer Firma für Wohnungsauflösungen die Bibliothek mitnehmen und sodann auseinanderreißen und für billiges Geld verramschen würden. Weh wurde es dem Onkel, Marbach wollte seine Bibliothek nicht haben, und so beschloss der Onkel die Bücher mit ins Grab zu nehmen wie, so sagt man, Inder bisweilen ihre Ehefrau.

Größe und Benutzungsmodalitäten herkömmlicher Grabstätten verboten indes eine allzu wörtliche Ausführung dieses Plans. Unter die Erde, geschützt vor den raubgierigen Fingern der Wohnungsauflöser und der fleddernden Verwandten, die den gesammelten Kleist mitnehmen, und die Tagebücher Ernst Jüngers wegschmeißen würden, sollten die Bücher gleichwohl, und so erwarb der Onkel große wasserdichte Kisten, und hob an, das Glück seines Lebens einen Meter tief unter seinem Garten für nachfolgende Generationen aufzusparen.

„Ist er sonst denn noch ganz gut beieinander?“, frage ich die Tante, und ernte ein entrüstetes Schnauben. Mit Zähnen und Klauen habe er sich gegen das Altenheim gewehrt, mit Einweisung habe sie drohen müssen, aber so habe es ja nicht gut weitergehen können, und ein gut geführtes Heim habe sie auch gefunden. „Kann er die Bücher da denn mitnehmen?“, frage ich nach, und meine Tante weist auf die immensen Kosten der Wiederausgrabung hin. Den Nachbarsjungen habe sie Geld gegeben, und hoffe demnächst die Kisten wieder vollzählig vorzufinden.

Ins Heim aber, so sagt meine Tante, werde der alte Mann die Bücher kaum mitnehmen können, höchstens eine Auswahl, und so werde sie die Bücher wohl, wie auch das Haus, verkaufen.


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