Samstag, 11. Juni 2005

Schade

„Mach´s gut.“, sage ich dem einen oder anderen, lasse mich von Leuten drücken, deren Namen ich schon wieder vergessen habe, und winke ein bißchen in alle Richtungen. Zu zweit gehen wir schließlich die leere Straße hinab, vorbei an vereinsamten Fischbuden, schauen durch die Fenster einer verlassenen Werkshalle, und rütteln umsonst an der geschlossenen Tür eines Kaffeehauses mit flatternder, blau-weiß gestreiften Markise. Mein blonder Begleiter spricht ein wenig bekümmert über die Grundlagen einer neuen Ethik, streift mit der Hand ein- oder zweimal leicht über mein Haar, und erklärt mir im Vorübergehen die heimische Tier- und Pflanzenwelt. Sieht man ihn an, so schaut er kurz zur Seite, schaut dann wieder, entschlossener zurück aus runden, grünen Augen, und spricht über die Ernährungsgewohnheiten einiger Insekten, deren träge Exemplare auf den Blättern eines Strauchs über einer Parkbank ruhen. „Hier ist es ganz schön.“, sage ich, und bemerke den noch immer blühenden Flieder, die weißen Holunderdolden, und die Zurückhaltung einer Natur, die selbst den Juni in gebremsten, mageren Farben begeht. „Magst du noch bis morgen bleiben?“, fragt mein Begleiter, und schaut an mir vorbei weit hinaus auf das graue, undurchsichtige Wasser. Er spricht ein bißchen über einige nahegelegene Städtchen, die er vor einigen Jahren bereist habe, deutet in eine ungefähre Ferne, und spricht von langen Spaziergängen am Wochenende.

Am Horizont, dort, wo Grau und Weiß ineinanderfließen, sehe ich sehr klein und durchscheinend zwei Spaziergänger ruhig und gleichmäßig durch die Felder schreiten. Ich kann das Käsebrot sehen und den grünen Tee. Ich höre die ernsthaften, klugen und außerordentlich ausgewogenen Stellungnahmen meines Begleiters. Ab und an streicht der blonde, schlanke Spaziergänger meiner blassen Doppelgängerin über Haar und Nacken.

„Ich muss heim.“, sage ich, und verschweige die leere Wohnung und den ebenso leeren Terminkalender. Mag er, denke ich, sich vorstellen, was er mag. Nicht vorstellen können wird er sich den Sog der Musik aus einer offenen Bartür. Die Traurigkeit meiner überdrehten, klugen, kettenrauchenden Freundin, mit der ich den Abend verbringen möchte. Die zerborstenen Hofeinfahrten, ein halbzerfallener Engelskopf aus vom Alter geädertem Stuck. Eine warme Nacht auf einer Decke am Helmholtzplatz; dösen und dem T. zuhören, der über Helmut Berger und die perfekte Farbe der Lilien spricht. Dem J² auf einer schmierigen Parkbank die Seeräuberjenny vorsingen. Am Morgen beim J. klingeln, und über dem Tau der Bäume einen schnellen Kaffee trinken, den Schläfrigen dann wieder der Wärme des Bettes überlassen und heimgehen. Die Bässe, die die ganze Nacht den Herzschlag regeln. Die Trägheit eines Nachmittags in der Sonne vor irgendeinem Café.

Du, denke ich, während ich meine Tasche zum Bahnhof ziehe, bist nicht einmal für zwei Tage lockender als meine Stadt aus Dreck und einwärts gewachsenen Nerven. Wärst du, bedaure ich, ein wenig maßloser, ein wenig ungerechter, ein wenig bloß weniger strohblond an Leib und Seele - aber still schreitet mein Begleiter mit mir bis zur Bahn. Du langweilst mich, denke ich. Aber schade ist es schon.

So zu sein, und nicht anders.


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