Montag, 25. Juli 2005

Flanieren

„Weißt du,“, sagt mein Begleiter, „Berlin ist mir eigentlich zu groß.“ Daheim, so erzählt er, kenne er die Bäckersfrau und den Metzger, alle Nachbarn die Straße hinauf und hinunter, und wenn er den Leichenwagen sehe, wisse er ebenso genau, wer gestorben sei, wie er den Anlass der verstreuten Reiskörner kenne, die vor der einzigen Kirche des Dorfes liegen, in dem er aufgewachsen ist, und in das er zurück möchte, irgendwann. - Auch ich, so antworte ich, während der Tee in lichtem, hellgrünen Strahl in die Tasse fließt, kenne die Verkäuferin beim Bäcker. In denjenigen Bars, in denen ich regelmäßig meinen Wein trinke, fällt mir auf, wenn eine neue Bedienung hinter dem Tresen steht, und meine Nachbarn kenne ich ausnahmslos alle. Die Vorzüge der Großstadt aber, die Opernhäuser, die Konzerte, Lesungen, Parties und Vernissagen, die habe er in seinem Kaff doch keinesfalls, und am Abend in die Stadt fahren zu können, sei nie dasselbe, wie dort schon zu sein. Der eigentlich Reiz einer großen Stadt aber - und hier trinke ich ein wenig vom viel zu heißen Tee – sei aber ein anderer. Ich wisse aber nicht, sage ich, ob er dies verstünde:

Durch die Stadt zu laufen, ziellos, unter den Linden einige Gesprächsfetzen von Passanten aufzufangen und einem Pärchen zuzulächeln, das im Lustgarten auf dem Rasen sitzt. Weiterzulaufen, in die Schaufenster zu schauen, und sich vorzustellen, wer einen prächtigen schilfgrünen, paillettenbesetzten Rock mit Plisseeeinsätzen kaufen wird. Hoffen, dass das Mädchen, dass beim Schuhgeschäft an der Ecke begehrlich ein paar Schuhe in der Hand wiegt, diese auch kaufen kann. Bei einem Antiquar einen Stapel Bücher zu kaufen, und über die Ex Libris ein wenig traurig zu werden, und an denjenigen zu denken, der sich diesen hübschen Linolschnitt im Stil der Neuen Sachlichkeit hat schneiden lassen. Bestimmt ein Arzt, denke ich, denn in einer Ecke prangt ein Stethoskop. Einem offiziell aussehenden Autokonvoi hinterherzuschauen und zu überlegen, wer darin sitzen mag. Durch die Scheibe einigen Männern in einem afrikanischen Telephonladen zuzuschauen, die so heftig diskutieren, dass ihre Rastalocken heftig hin und her schwingen. In einem Café beim Zeitungkesen zuhören, wie die Kellnerin schniefend leise telephoniert, und auf einmal laut wird und brüllt „Du Dreckskerl. Dann hau´ doch ab.“ – Drei, vier U-Bahnstationen von meiner Wohnung entfernt in der Fremde zu sein, eine neugierige Touristin, die den verschleierten Frauen hinterherschaut und überlegt, ob die Frau mit dem safranfarbenem Kopftuch über einem geschmackvollen Mantel glücklich ist. – Vielfalt des fließenden Lebens.

Mein Begleiter schüttelt den Kopf, und ich versuche es mit einer anderen Geschichte.

„Weißt du,“, sage ich, „als ich acht war, hatte mein Vater in London einen Termin bei einem Notar, und ich sollte warten. Irgendwann wurde mir langweilig und ich verließ das Haus, ließ meinem Vater eine Notiz da, ich ginge zum Hotel zurück, und lief die Straße hinab. Ich hätte,“ fuhr ich fort, „das Hotel gefunden, das war ja gar nicht weit. Ich bin aber nicht abgebogen, sondern einfach weitergelaufen, immer weiter, dann in jede lockende Straße hinein, ab und zu in Geschäfte, habe ein wenig geschaut, irgendwann an einem Brunnen an einem ruhigen, baumbestandenen Platz ausgeruht und immer weitergelaufen. Irgendwann veränderten sich die Geschäfte, die Stimmen wurden lauter, die Gerüche andere, und ich hatte schon ganz vergessen, dass ich eigentlich zum Hotel zurücklaufen wollte. Bei einem Bäcker habe ich mir ein bißchen Kuchen gekauft, da muss ich schon lange gelaufen sein, und wie im Rausch bin ich die Straßen im Zick-Zack immer weiter gegangen, stundenlang, und habe mich vergessen und verloren an diese riesige, verführerische Buntheit einer Stadt.“

„Hast du keine Angst bekommen?“, fragt mein Begleiter, der den Reiz, den wirbelnden Zauber der großen Stadt nie verstehen wird, und ich lächle achselzuckend und spreche über Dinge, die wir beide mögen.


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