Freitag, 9. Dezember 2005

Der Germanist

Leni Riefenstahl hätte ihn sofort photographiert: Er war riesengroß, die blonden Haare fielen ihm weit ins Gesicht, er hatte Arme wie ein Bauarbeiter und unterrichtete ein bißchen Deutsch, weil zu viele Lehrerinnen schwanger waren. Auf der Stelle verliebte sich die Hälfte meiner Obertertia in den vielleicht dreißigjährigen Germanisten, und als die N. und ich ihn Monate später, längst war sein Gastspiel im Schuldienst beendet, nachts in der U-Bahn trafen, fiel die N. ihm emphatisch um den Hals, küsste ihn auf beide Wangen, und zog ihn an der übernächsten Station die Rolltreppe hoch und in die nächste Bar.

„Müsst ihr nicht nach Hause?“, fragte er, ein wenig überfordert von der strahlenden Forschheit der N., um die ich sie heiß und schweigend beneidete. Wir schüttelten stolz den Kopf, tranken Bellini, weil da der Alkohol nicht so auffällt, und die N. lehnte sich weit auf den Tisch, und plauderte so leichthin, wie ich es immer gern gekonnt hätte. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, sprach kaum, und irgendwann hatte die N. genug und sprang auf. Sie werde jetzt noch irgendwen besuchen, erzählte sie, warf ein paar Münzen auf den Tisch, und verschwand.

„Sagen sie doch auch mal was.“, wandte er sich an mich. Ich stotterte ein wenig herum, beobachtete besorgt seine Miene, und wünschte mir, auf der Stelle unsichtbar zu werden oder wenigstens so wortgewandt und hemmungslos wie die N. „Ich will sie nicht langweilen.“, entschuldigte ich mich irgendwann, trank aus, und kündigte an, jetzt nach Hause zu fahren. „Nein, gar nicht. Gar nicht langweilig, wirklich nicht.“, stammelte er zurück, und brachte mich zur Bahn. In stummer Peinlichkeit schritten wir dem U-Bahnaufgang zu, und die ganze Last meiner kommunikativen Unfähigkeit lag schwer auf meinen Schultern. Erwachsensein, wusste ich, würde anstrengend werden. „Sie sind gut in Deutsch.“, unterbrach er das Schweigen nach Minuten, fragte nach aktueller Lektüre, und ich brachte meinen ersten ganzen Satz des Abends über die Lippen – es ging, glaube ich, ausgerechnet um C. F. Meyer.

Ich las unglaublich viel in jenen Jahren der Mittelstufe, mehr als irgendwann später in meinem Leben, und das Bewusstsein des durchaus eskapistischen Charakters dieser Exzessivlektüre bewirkte, dass mir sowohl Umfang als auch Auswahl ein klein wenig peinlich waren. Die Person, die ich gern gewesen wäre, ähnlich der N. etwa oder meiner kleinen Schwester, hatte es schlichtweg nicht nötig, dermaßen viel zu lesen, und in einem im Nachhinein wohl ohnehin zum Scheitern verurteilten Versuch der Anpassung an ein ersehntes Ideal hielt ich meistens einfach den Mund.

Der Germanist allerdings taute auf im Rahmen der Konversation, wurde lebhaft, begeistert, erwähnte andere Bücher, mehr Bücher, versprach, Bücher zu verleihen, und betrat, auf der Suche nach Stift und Zettel, um Titel aufzuschreiben, eine nächste Bar, in der wir sitzenblieben, bis der Bartender die verspiegelte Theke wischte. Es war so ungefähr drei, die Nacht hing nass und dunkel in den Bäumen, und die letzte Bahn war weg.

„Ich rufe meinen Vater an, der holt mich.“, lag es mir auf der Zunge. Tatsächlich hatte mein Vater mir den Schwur abgenommen, ihn jederzeit und ohne Zurückhaltung aus dem Bett zu holen, wenn ich nicht wüsste, wie sonst nach Hause zu gelangen wäre, oder wenigstens ein Taxi zu nehmen, das er bezahlen würde, egal wieviel, von wo und wann. Die Angst vor einer verunglückten, verschleppten oder sonstwie toten Tochter überwog offenbar jegliche Sparsamkeit wie auch das Interesse an ungestörter Nachtruhe. - „Du kannst auch auf meiner Couch schlafen.“, bot der Germanist an, und ich hielt den Mund und nickte.

Bis in die Morgenstunden saß der Germanist auf dem Rand seiner Schlafcouch, las vor, zog Bücher aus dem Regal, sprach über andere Bücher, und kochte irrsinnige Mengen aromatisierten Tee, über den die N. am Montag drauf spotten würde. „Was für ein Langweiler!“, würde sie lachen. "Hast du ihn wenigstens geküsst?“, würde sie fragen, und ich würde den Kopf schütteln, obwohl das gelogen war, und ich selber nicht wusste, warum.


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