Donnerstag, 12. März 2009

Orthorexie

Aber ich bitte Sie. Wie denn? Ich bin 33, nicht gerade das, was man eine gute Futterverwerterin nennt, und meine Kämpfe um die ja nun objektiv nicht gerade ambitionierte Kleidergröße 38 sind durchaus, das muss man so sagen: qualvoll und erbärmlich. In der Welt der schönen Frauen existiere ich sozusagen nicht mal am Rande. Ein entspanntes Verhältnis zur Nahrungsaufnahme besitze ich daher nicht mal im Ansatz und beneide jene, die von Natur aus und ohne irgendetwas dafür zu tun mit einer Abneigung gegen fette oder süße Speisen gesegnet sind. Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich von Kuchen leben.

Dass Disziplin beim Essen schnell auch etwas wunderliche Blüten treiben kann, höre ich daher stets mit einer gewissen Mischung aus Mitleid und Neid. Jene fünfzig Kilo leichte Dame, welche als Kollegin meines lieben Freundes J.2 seit Beginn ihrer Berufstätigkeit immer leichter wird, mag objektiv möglicherweise an den Rand des Pathologischen gehören. Ihre Figur jedoch stellt ein schwer zu widerlegendes Argument für eine Störung dar, welche man unter dem Namen „Orthorexie“ kennt: Die krankhafte Angst, etwas Falsches zu essen.

Als Studentin war das offenbar kein Problem. In der Mensa aß besagte Dame Salat. Am Abend kochte sie sich leichte Curries oder Suppen aus Biogemüse. Auf Parties nippte sie an Weißweinschorlen, trank ausreichend Wasser dazu, und so fiel die wohl schon seit Jahren bestehende Störung schier gar nicht auf. Dann aber wurde die Dame berufstätig. Sehr berufstätig sozusagen, siebzig Stunden die Woche, die sie fast ausnahmslos außerhalb Berlins verbringt.

Mit Kochen war da natürlich Schluß. Mit gesundem Essen eigentlich auch, denn wie jeder, der einer Berufstätigkeit nachgeht, weiß, ernährt sich der Dauerinsasse stetiger Meetings vor allem von Schnittchen und Keksen, um abends mit den – in diesem Fall beratenen – Kunden langwierig und viel an öffentlichen Orten zu essen.

Bio war da nicht drin. Nach ein paar Wochen gab die Dame ihren Widerstand gegen die Erzeugnisse der konventionellen Landwirtschaft zumindest soweit auf, dass sie auch Käse und Vollkornsemmeln ohne das ersehnte Prädikat nachhaltiger Erzeugung zu sich nahm. Gab es nur Weißmehlprodukte, aß sie eben nichts. Oder nur vom Obstteller. Bei abendlichen Essen bestellte sie Salat mit Dressing extra. Am Frühstücksbuffet im Hotel löffelte sie Magermilchjoghurt. Gab es das nicht, blieb es bei ein paar Äpfeln. Ansonsten reist die Dame stets mit Reiscrackern, die sie sich Samstags kauft.

Natürlich nahm sie ab. Während alle anderen Berufsanfänger im ersten Jahr mächtig Gewicht machen, wurde sie als Einzige des Einstellungsjahrgangs 2008 immer dünner. Es hagelte Komplimente. Mehrere Kollegen und zwei Kunden verliebten sich in sie, weil bekanntlich fast nichts mehr von überwältigenden inneren Werten zeugt wie eine gute Figur. Als alle Kollegen aus ihrer zweite Generation Anzüge herauswuchsen, ärgerte sie sich über den Umstand, dass es bei Hosenanzügen keine Größe Null gibt.

Inzwischen macht sich ihr Teamleiter ernsthafte Sorgen. Zwar ist es ihr gelungen, durch die mitreisenden Vorräte einer gesundheitsgefährdenden Abnahme offenbar vorzubeugen. Indes sind Zwistigkeiten im Team zwischen den sich stetig verbreiternden Kolleginnen und der Orthorektikerin ausgebrochen, bei denen, wie man hört, die Sympathien der männlichen Kollegen eher auf Seiten der schlanken Person zu verorten sind, die – so sagt man – wenigstens auf sich achte.



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