Die Grillplatte Akropolis
„Papa?“, stieg ich über den gleichfalls schlafenden Hund und setzte mich auf die Bettkante neben meinen Vater. „Mmmh“, antwortete der mit geschlossenen Augen und langte auf dem Nachtschrank nach seiner Brille. „Musst du nicht einkaufen?“, zog ich die Vorhänge auf, bis das Zimmer im gleißenden Mittagslicht lag, die Tapete gescheckt von den Schatten der Blätter eines Baumes vorm Fenster, und mein Vater blinzelte erst mich an, dann in die Sonne, und sah auf die Uhr. Samstagmittag war’s, 13.00 Uhr.
„Warst du lange weg gestern abend?“, fragte ich weiter, sprang auf die Decke, hörte mit halbem Ohr seinen verschlafenen Erzählungen über Freunde und Freundinnen zu, über Konzerte und Bars, und referierte die vorabendlichen Aussprüche des Babysitters, dessen Dummheit innerfamiliär geradezu sprichwörtlich war: Ein pausbackiges, rothaariges Mädchen, 16 oder 17 Jahre alt, das Lehrerin werden wollte, und es gewiss auch geworden ist.
„Heute nicht, Prinzessin.“, röchelte mein Vater zurück und schleppte sich ins Bad. Aus der offenen Badezimmertür drang das Brummen der Zahnbürste, und ich saß ein wenig enttäuscht zwischen den Decken und Kissen: Der Samstagseinkauf mit einem Frankfurter Würstchen beim Metzger auf die Hand und Schokolade am Stiel bei Edeka mit der klaren Ansage, den Kauf auf keinen Fall meiner schon eher gesundheitsbewussten Mutter zu verraten, war offenbar an widrigen Umständen gescheitert. „Nicht böse sein, Modeste.“, streichelte mein Vater mir auf dem Rückweg aus dem Bad über den Kopf. „Gehen wir halt zum Griechen.“ – Die Welt war wieder in Ordnung. „Versprochen ist versprochen!“, nagelte ich meinen Vater auf seiner schlaftrunkenen Ansage fest, und zog wieder ab, um die größte Playmobilstadt aller Zeiten weiter auszubauen, umzubauen, und dann alles wieder abzureißen.
„Ich dachte, wir gehen zum Griechen?“, bohrte ich nach, während mein Vater sich Müsli in einen Teller häufte, und sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Küchenplatte, die mir so ungefähr bis zu den Schultern ging. „Nun lass mich doch erst einmal frühstücken.“, kam es ein wenig gequält zurück, und nach einigen Stunden, begleitet von regelmäßigen Anfragen nach der genauen Zeit des Aufbruchs, rasierte sich mein Vater und suchte im ganzen Haus nach seinem Autoschlüssel. Mit einer über Jahre gestählten Gleichgültigkeit gegenüber abhandengekommenen Schlüsseln, dem genauen Aufenthaltsort von meines Vaters Portemonnaie und seinen anderen Habseligkeiten, saß meine Mutter mit meiner kleinen Schwester auf dem Schoß im Wohnzimmer und blätterte in der Zeitung.
Ungefähr mit der Ansage: „Seid ihr noch nicht angezogen?“, tauchte mein Vater irgendwann aus jenen Untiefen wieder auf, in denen sich seine Schlüssel bis heute zu verbergen pflegen. Ich öffnete die Pforte zur Auffahrt, sprang auf den linken Rücksitz, und zehn Minuten später schloss mein Vater den Wagen auf dem Parkplatz des "Akropolis" wieder ab.
Wie es dem Betreiber des Restaurants Akropolis gelungen war, eine Baugenehmigung für die baulichen Veränderungen zu erhalten, mit denen er dem ursprünglich weißgekalkten Fachwerkbau ein eher hellenisches Aussehen zu verleihen suchte, mag der Teufel wissen: Rechts und links der Tür ragten zwei meterhohe, weiße, dorische Säulen empor und trugen ein gleichfalls weißes Vordach mit Götterstatuen obendrauf. Über jedem Fenster hatten die Betreiber einen Götterkopf angebracht, und in den Fenstern blinkten bunte Lampen in Plastikschläuchen, die sich wiederum um Götterstatuetten ringelten. Unter der Decke, aber das konnte man erst sehen, wenn man saß, hing ein Fischernetz mit lauter Plastikfischen drin, und große bemalte Amphoren lehnten in allen Ecken. An der Kopfseite des Schankraumes stand eine ungefähr lebensgroße nackte Person auf einer Art Füllhorn und schmiegte sich an eine Grotte, aus der Wasser in ein muschelförmiges Bassin plätscherte. Ich liebte das Akropolis.
„Und das Fräulein Modeste endlich auch wieder da?“, der schmierigste Kellner der ganzen Stadt reichte auch mir eine eigene Karte, obwohl er genau hätte wissen können, dass die Kunst des Lesens sich mir noch nicht erschlossen hatte. „Darf ich eine Cola?“, fragte ich meine Mutter, die nur stumm den Kopf schüttelte. Einen Apfelsaft also.
„Einmal die Grillplatte Akropolis. Und einen Halben Roten mit zwei Gläsern bitte.“, orderte mein Vater, und der Kellner schrieb die immer gleiche Bestellung auf einen dieser schmalen Kellnerblöcke, auf denen oben der Name einer Brauerei aufgedruckt ist, und unten etwas die Werbewirkung Bekräftigendes stand wie „Bierige Braukunst“ oder auch „Herzhaft frisch und würzig“. Auf dem Tisch warb ein Plastikaschenbecher für die Zigarettenmarke „HB“, und hinter den Fenstern zum See konnte man Ausflugsdampfer sehen, auf denen Familien hin und herfuhren, winkten und Kuchen aßen.
Ob die Grillplatte Akropolis wirklich so groß war, oder ob lediglich die Relation zwischen der beschränkten Größe einer fünfjährigen Person und der Fleischplatte den Eindruck übermäßiger Fülle erweckte, vermag ich nicht mehr zu sagen. Gleichwohl, groß war sie bestimmt, eine ovale weiße Bratenplatte, gefüllt mit Bergen von Gyros, Souvlakispieße waren drauf, alle möglichen gegrillten Fleischteile, Lammkoteletts und Hähnchenschnitzel, Unmengen Krautsalat mit ein paar versprengten Oliven dazu, Zaziki und Tomatenreis und Pommes Frites extra in einer Schüssel, auf deren Grund das schlangenstarrende Haupt der Medusa zu sehen war, näherte man sich dem Grund. Verzierungshalber lag an einer Seite der Grillplatte jeweils eine blütenförmig aufgeschnittene Tomate gefült mit hervorquellender Petersilie, wenn ich mich recht entsinne und die Dekoration nicht verwechsle mit jener, die das unweit gelegene, aber längt nicht so beliebte Restaurant "Dubrovnik" zu bieten hatte. Mindestens eine ganze rohe Zwiebel lag in Ringen über dem Ensemble.
Ob meine Eltern das "Akropolis" in der selben Weise schätzten, wie es bei mir der Fall war, mag ein klein wenig fragwürdig sein, gleichwohl, in schöner Regelmäßigkeit beschloss ich Mahlzeiten in Gesellschaft der gipsernen Göttern Griechenlands mit einer Portion Sahnejoghurt mit Honig und Nüssen, meine Eltern bekamen jeweils einen Ouzo, und wir bestiegen wieder den Wagen, den ein Jahr später, ein paar Tage vor meiner Einschulung, ein betrunkener Autofahrer auf dem Parkplatz von Peek & Cloppenburg komplett demolieren würde, und ein paar Jahre später war auch das "Akropolis" nicht mehr da.
Väter