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Die westliche Welt kennt, wie man weiß, kaum etwas Brutaleres als die Spiegel bei H&M, in denen jede mir bekannte Frau Dellen auf den Oberschenkeln hat, und auf vollkommen indiskutable Art und Weise oben, unten, rechts und links aus den Sachen quillt, die man da kaufen kann. Um aber auch jene Menschen, die diese Umkleiden nicht benutzen, restlos zu deprimieren, hat sich der erfolgreiche schwedische Konzern etwas Besonderes ausgedacht, und bietet auf seiner Homepage unter dem links oben angebrachten Punkt „Umkleide“ die Möglichkeit, Personen zu gestalten, die die eigenen Maße aufweisen und sodann angezogen werden.
„Create my model“, heißt die ganze Veranstaltung, und wer darauf klickt, sieht kurz darauf eine junge Dame (Männer gibt es auch), die ungefähr so aussieht, wie öffentlich abgebildete Frauen immer aussehen. Wie man auf der rechten Seite sehen kann, hat sie eine Sanduhrfigur, und wiegt bei einer Größe von 1,75 ganze 44 Kilo. Ansonsten ist sie braungebrannt, europäisch, jung, und trägt einen Pferdeschwanz.
44, kneife ich mir unwillkürlich in den Bauch. 44. 44 Kilo habe ich zuletzt in der gymnasialen Unterstufe gewogen, da war ich circa 12, ruderte, ritt und rannte, fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zur Schule, und wurde biologisch hochwertig und ziemlich schwer zerkaubar ernährt. 44, murmele ich leicht verstört und mache mich auf den Weg ins Bad. Zum Glück ist die Batterie der Waage leer.
Um meine Leidensfähigkeit zu testen, gebe ich meine Größe und mein ungefähres Gewicht ein. Sehr jung bin ich auch nicht mehr, glaube ich, und lange Haare habe ich auch nicht, sondern mehr so eine praktische nackenbedeckende Halblangfrisur, die eigentlich nie sitzt, aber darauf kommt es wahrscheinlich eh nicht mehr an. - 44, schnaufe ich vor mich hin.
Letztlich ist irgendwo ein Model verhungert, beruhige ich mich und fasse die dicke Dame auf dem Bildschirm fest ins Auge. Sie ist....nun, rundlich, könnte man sagen. Jürgen Teller oder Karl Lagerfeld würden sich angewidert abwenden. Gleichzeitig versuche ich mir die Differenz zwischen meinem Gewicht und 44 Kilo in Butterstücken vorzustellen. Bei der Vorstellung wird mir schlecht.
44 stöhne ich und beschließe, nur noch Sushi und thailändische Suppen zu essen. Wenn ich jede Woche 1,5 Kilo abnehme..., rechne ich vor mich hin und drehe mich in bißchen vor dem Spiegel an meinem Schlafzimmerschrank. Rund 100 Jahre alt ist der Schrank, und vermutlich, so spekuliere ich, waren alle früheren Eigentümerinnen schlanker. Sogar der Schrank lacht mich aus.
„Tja, Madame Modeste!“, kichert der Schrank und knirscht ein bißchen mit den Scharnieren. „Dermaßen viel Stoff für ein Frau ist mir auch noch nicht untergekommen.“, und biegt sich vor Lachen ein bißchen in den Seiten. „Du sei ruhig!“, werfe ich dem Schrank eine ziemlich große Jeans an den vorlauten Spiegel.
44, 44, murmele ich auf dem Bett liegend verstört vor mich hin, starre an die Decke und betaste verstört meinen Bauch.