Für später
Die M. sitzt vor der Heizung, die Beine angezogen, und die Hände vor den Schienbeinen verschränkt. Auf dem Bett rauchen die K., die S. und ich, und auf ihrem einzigen Sessel liegt die C.² mehr als sie sitzt. Es gibt Glühwein aus Tetra-Packs, nur DM 1,29 bei Plus, aber heiß und süß. Auf dem Boden flackern ein paar Teelichter, und die beiden Aschenbecher laufen stündlich über und werden in eine Glasschale geleert, damit es nicht anfängt zu brennen.
Es ist morgens, irgendwann zwischen vier und sechs, und wir kommen von einer Party. Die Party der Wirtschaftswissenschaftler vielleicht, vielleicht die feiernde Sportfakultät. Ganz sicher nicht die Juristen, denn dann säße ich nicht hier mit den „Mäusen“, wie meine Lehrstuhlkollegen aus dem Verfassungsrecht spötteln: Die Mäuse, die alle Deutsch und Englisch auf Lehramt studieren, Slawistik und Geschichte auf Magister oder so ähnlich.
An diesem Abend muss die K. getröstet werden, die mit den größten Hoffnungen zu der Party gefahren war, aber der P., um den es – glaube ich – ging, stellte sich als uninteressiert heraus, und muss der P. nun gründlich miesgemacht werden, damit es nicht so schlimm ist, ihn nicht bekommen zu haben. Immer neue Fehler des P. tischen die S. und die C.² der K. auf, von seinen Augenbrauen bis zu seinem Auto bleibt kein Lebensbereich verschont, und ab und zu piepst die K., alle hätten recht, und es sei sicher besser so. Dann folgt ein langes Schniefen.
Still und etwas abwesend sitzt die M. an der Heizung, tröstet nicht mit, trinkt keinen Glühwein und raucht nur ebenso hastig wie die anderen eine Schachtel Marlboro Lights nach der anderen leer. Irgendwann steht sie auf und geht. „Bis bald, Süße.“, wird sie in der Tür umarmt und verschwindet. Ein, zwei Minuten später hört man ihren Wagen anspringen, erst lauter werden, und sich dann langsam entfernen.
Besonders still sei die M. heute gewesen, bemerkt die C.² nun, als sie gegangen ist. Sicher sei so eine Party kein Spaß für die ruhige, schüchterne M., die ihre neunzig Kilo von Semester zu Semester verzweifelter durch die Parties schiebt, und inzwischen nicht einmal mehr zuhört, wenn die C.² oder die S. oder irgendwer über Töpfe und Deckel, und die unendliche Spannweite des männlichen Geschmacks sprechen. - Sie habe noch nie einen Freund gehabt, erzählt die M. einmal nach sehr, sehr viel Sekt und ich nicke, weil mir sonst nichts einfällt. Nicht so schlimm, möchte ich sagen, aber weil das gelogen wäre, bleibe ich lieber still.
Um geliebt zu werden, müsse man sich auch selber lieben, behauptet die S. und lobt die zarte Haut und die Oberweite der M.. Wenn die M. sich selber erst einmal mögen würde, stünden die Bewerber Schlange, nett, reizend und natürlich, wie die M. sei. Die Problem, doziert die auffällige, gertenschlanke S. vor sich hin, säße im Kopf der M., nicht auf ihren Hüften. Wo aber auch immer die Ursache für den amoureuxen Misserfolg der M. zu verorten ist: Im nächsten Semester ist sie noch schwerer, noch unglücklicher, und geht noch weniger gern zu den Parties der Fakultäten oder gar anderswohin. Allein in ihrem Appartement raucht die M. irrsinnig viele Zigaretten, tröstet sich mit Sekt oder Pralinen, und ab zu bekommt sie Besuch.
Es macht wenig Spaß, der M. beim Unglücklichsein zuzuschauen, und so bleiben die Gäste langsam aus. Irgendwann beginnt die M., immer später aufzustehen, seltener zur Uni zu gehen, und weint manchmal unvermittelt, wenn man sie anruft. Zur Hochzeit ihres Vaters mit einer Frau, die keine zehn Jahre älter ist als die M., sagt sie ab. Der M. müsse geholfen werden, sagen die C.², die S. und die anderen, aber am Ende sitzt die M. wieder allein in ihrer Wohnung, und was sie da tut, weiß keiner mehr so recht, weil keiner nachschaut.
Eines Tages kommt die M. gar nicht mehr in die Uni, und als S. und C.² klingeln, macht niemand auf. Im Krankenhaus sei die M., sagt ihr Vater, den die C.² anruft. Ein paar Tage später ruft wiederum er die C.² an und bittet darum, seiner Tochter eine Tasche zu packen. Seine Tochter ginge es schlecht. Den Schlüssel schickt er der C.² zu.
Am anderen Abend steht die C.² in der Wohnung der M. Im Dämmerlicht hinter geschlossenen Vorhängen liegt alles durcheinander. Das Parkett ist schmutzig. Asche und Stanniol, Papier, Glas und Plastikverpackungen liegen herum, und das Bett ist lange weder gemacht noch die Bettwäsche gewechselt worden. Im Badezimmer riecht es muffig und feucht.
Die Tasche der M. steht auf dem Schrank. Der Schrank selber ist riesengroß, ein fünftüriges, massives Monstrum, und als die C.² die Türen öffnet, hängen Dutzende von Kleidern und Hosen, Blusen und Oberteilen ordentlich nebeneinander, und aus allen Kleidungsstücken, aus jeder Bluse, an jeder Hose hängen die Etiketten der Geschäfte heraus. Ganz neu sind die Kleider der M. Nicht schlecht, denkt die C.², die selbst bei H&M auf die Preise schauen muss, und ihr Geld in einer Buchhandlung verdient, abends und an Samstagen. Nicht schlecht, denkt sie, als sie die Preise sieht. Die M. hat nicht gespart beim Kauf, aber getragen, getragen hat sie die mit Geschmack und Sorgfalt ausgesuchten Kleidungsstücke nie, und die C.² erschrickt: Jedem Etikett, dreißig oder vierzig baumelnde Papierschildchen, ist zu entnehmen, dass dieses Kleidungsstück für schlanke Frauen geschneidert worden ist, für sehr schlanke Frauen: Größe 36 hat die M. gekauft, Spitzenwäsche und Cocktailkleider, knappe Oberteile für abends und Kostüme für wer weiß schon welchen Anlass.
Für später, wird sie der C.² tags drauf im Krankenhaus erklären. Für später, wenn alles anders geworden sei, wenn ihr Leben ihr gefällt, wenn die Anlässe stattfinden, für die man Cocktailkleider und bunte Röcke braucht, habe sie eingekauft, und stumm steht die C.² neben dem Krankenhausbett und sucht nach den richtigen Worten.
Ob es aber dieses Später gegeben hat, ob die M. die vielen Röcke, T-Shirts und Hosen jemals getragen hat, das weiß ich nicht, denn in die Uni kam die M. nicht zurück. Ob sie woanders weiterstudiert hat, weiß ich auch nicht zu sagen, denn bei uns, bei der S., der C.², der K. oder mir hat sie sich nicht mehr gemeldet.
Sie hat...