Der Urlaub bekommt mir nicht
10.30. Erwacht. Mit geschlossenen Augen liegen geblieben. Letzte Reste reger Traumtätigkeit suggerieren den Aufenthalt in einem Bahnabteil, das ich ohne Geld verlassen muss. Furchtbarer Hunger. Im Traum einen Markt aufgesucht, wo ein freundlicher Basarverkäufer mir kostenlos spitze, metallisch glänzende, stricknadeldünne Fische freigebig in eine Plastiktüte füllt. Hätte ich Geld dabei, könnte ich selber wählen und Fleisch kaufen statt der wenig verlockenden Fische, ärgert sich mein Traum-Ich und zieht mit der Fischtüte ab.
Sollte ich mehr Fisch essen, frage ich mich beim Erwachen. Heute Forellen, beschließe ich und taste nach meiner Brille.
11.15. Der Käse von Kaufhof taugt wieder nichts. Aus der Mitte des Käses bröckeln mir unregelmäßige Bruchstücke des Brie de Meaux entgegen. Künftig ins Lafayette. Nach kurzer Überlegung, den Käse im Backofen zu erwärmen, um dem Gekrümel ein Ende zu machen, missmutiger Verzehr.
11.45. Mir ist langweilig. Lese ungefähr zehn Seiten einer Biographie und weitere zehn Seiten eines Romans, dessen Titel mehr verspricht, als der Inhalt zu halten in der Lage ist. Zärtliche Betrachtung des ansehnlichen Stapels jüngst erworbener Bücher. Sodann spontane Irritation: Auf der Hälfte aller aktuell vertriebener Bücher, ob Klassiker oder modern, prangt eine Empfehlung der unsäglichen Frau Elke Heidenreich. Künftig nur noch Antiquariate.
13.00. Vielleicht doch kein Fisch? Lebhafte Schnitzelvisionen.
13.30. Verschiedene Bekannte bei Google eingegeben. Alle sind promoviert, nur ich nicht.
14.15. Öffne mehrmals meine Dissertation und schließe das Dokument wieder. Du hast doch Urlaub, sage ich mir und setze mich demonstrativ aufs Sofa. Tu doch einfach mal nichts, denke ich und stelle mich vor den Spiegel. Nichtstun, sage ich laut. Regeneration. Bewusste Untätigkeit! Müßiggang! – Nichts hilft.
14.30. Neurasthenie. Reibe immerzu Daumen und Zeigefinger aneinander und klopfe ab und zu mit Zeige- und Mittelfinger der linken Hand gegen mein Kinn. Rückkehr ins Bad. Beim Versuch, Badewasser einzulassen, den Stöpsel abgebrochen, mit dem man den Austrittsort des Wassers einstellen kann. Nun fließt das Wasser nur noch aus dem Hahn. Auch egal, sage ich ein paarmal laut und zerbrösele das letzte Drittel eines festen, ölkreideartigen Badezusatzes, den der J. mir geschenkt hat. Es riecht nach Cassis.
14.15. Interessierte Betrachtung meiner Fingerkuppen. I am the walrus!, konstatiere ich und entsteige der Wanne. Wiederholte Inspektion, ob wirklich körperlich symmetrisch beschaffen. Negativer Befund.
14.30. Das ungute Gefühl, die Körperwahrnehmung rage jeweils etwa einen Zentimeter über den eigentlichen Körper hinaus.
15.00. Nach Jahren wieder längere T-Shirts. Ist das wirklich kleidsam? Sehe ich übermäßig kurzbeinig aus? Oder ist das in meinem Alter schon egal?
15.15. Wozu das alles noch. Lebenskrise auf dem Fahrrad zwischen Kastanienallee und Hamburger Bahnhof.
16.15. Die modernen Kunstwerke gefallen mir nicht. Erneutes Bewusstsein bestürzender Konventionalität. Von mir aus hätten sie 1950 aufhören können mit Malen, formen sich wahrhaft banausische Gedanken und drücken von Innen gegen meine Zähne. Mühsam geschwiegen, um keinen merkwürdigen Eindruck zu hinterlassen bei A.`s Freundin, die mich nicht kennt.
17.15. Freude über die spontane Produktion einer Empfindung angesichts eines verstümmelten, ausgestopften Pferdes. Immerhin. Ekel funktioniert noch.
17.45. Präparatensammlung. Wird den anderen Leuten hier eigentlich nicht übel? - Die waren schon vorher tot!, beruhige ich mich angesichts der missgebildeten Föten mit übergroßen Köpfen oder ohne Gehirn mit ganz eingedrückter Hirnschale. Optisch äußerst eindringliche Vorstellung meiner selbst in einem riesengroßen Gurkenglas, nackt, vor dem Schulklassen stehen und lachend auf meine Hüften zeigen. Die fette Frau, kreischt es vielstimmig in meiner Vision. Magere Mädchen schlagen sich stolz auf ihre fleischlosen Bäuche.
18.30. Jetzt von einer Wespe gestochen werden und einfach sterben, denke ich und zähle die grell-gelben Streifen auf dem Leib des Insekts, das abwechselnd um das Glas Fassbrause meiner Nachbarin und um meinen Pfefferminztee herumfliegt, unschlüssig, wer allergischer ist.
19.30. Fisch. Ich hätte Schnitzel kaufen sollen.
20.00. Alles sinnlos. Kurze Versuchung, meine gesamte Dissertation einfach zu löschen. Leider liegt eine erste Fassung (eine vorläufige Fassung, sage ich mir) meinem Doktorvater bereits vor und hat ihm gefallen.
22.00. Grundlegende Umwälzungen. Gliederung umgestellt. Andere Ergebnisse. Diese Dissertation ist noch zu retten, sage ich mir mehrmals nachdrücklich vor. Heute, morgen, übermorgen, plane ich die erste Hälfte meines restlichen Urlaubs.
24.00. Mir geht es gut, bekräftige ich und ziehe ein paar Fratzen vor dem Spiegel.
Morgen vielleicht Schnitzel.
und: promovieren ändert rein gar nichts am sinn des seins (bei mir ist es schon 5 jahre her).
Aber: Fertig werden will man doch mal... - das kann ich nachempfinden.