Portrait einer Bloggerin als jugendlicher Kotzbrocken
Hinter der Wohnungstür ist es kalt. Vor der offenen Balkontür hat sich eine kleine Lache auf den Dielen gebildet. Ich habe wohl vergessen, die Tür zu schließen, als ich aufgebrochen bin, und das ist nun viele, viele Stunden her. Die Decken sind hoch, und es wird dauern, bis der Raum wieder warm ist. Ich hülle mich in Skiwäsche und suche einen Pyjama, koche einen allerletzten Tee, und beziehe die beiden Decken zusätzlich, unter die ich sonst meine Gäste lege. Mit dem Tee in der Hand sitze ich unter dem Deckenberg und schaue Robert Byron zu, wie er Teheran verlässt, aber Teheran interessiert mich nicht heute nacht. Teheran werde ich am Morgen besuchen, wenn ich meinen Magen mit Fencheltee von den vielen Zigaretten zu kurieren versuchen werde.
Ich kann mich kaum erinnern, denke ich weiter auf der Spur des Gesprächs auf dem Weg die eisige Invalidenstraße hinauf. Wie es ist, 19 zu sein, habe ich vergessen. Das Mädchen von 1996 bin ich schon so verdammt lange nicht mehr, dass ich nicht weiß, ob sie mir ähnelt.
Auf den wenigen Photos aus diesem Jahr, und den noch wenigeren Bildern, die ich in Berlin habe, schaut sie schräg an der Kamera vorbei. Die Haare sind lang bis zwischen die Schulterblätter, die Brauen nicht gezupft, und das rot-schwarze Holzfällerhemd verdeckt den Körper, der schlank gewesen sein muss von dem vielen Sport. Dreimal die Woche Rudern und Hockey, und dabei heimlich die Grazien beneiden und sie unheimlich verhöhnen mit ihrem Ballett, schon seit Jahren auf Spitze. Einmal die Woche im Atelier einer Freundin meiner Mutter Ausdrucksmalerei. Den Bildern, die bis heute den Keller meines Vaters zieren, ist anzumerken, dass es da nicht viel auszudrücken gab. Die Schule schnurrte im Hintergrund, für´s Abitur auch nur einen Handschlag zu tun, wäre mit meiner ohnehin unterentwickelten Selbstachtung unvereinbar gewesen. Die im Nachhinein wohl altersadäquate Unsicherheit war garniert – auch dies wohl voll und ganz altersentsprechend - mit einer Arroganz, die vermutlich äußerst unangenehm aufgefallen wäre, hätte ich meine Meinung über den Lauf der Welt ausführlicher geäußert. Über die politischen Träume meines Vaters war ich ungefähr so erhaben wie die Königin von England über die Spice Girls und war überzeugt von der völligen Gleichgültigkeit der Beschaffenheit von Staat und Gesellschaft. Meine Banknachbarin J. (nicht die gleichnamige Berliner Freundin) wollte zum Theater, meine Doppelzweier-Partnerin M. träumte von Olympia, mein erster Freund wollte komponieren und der Zweite Leprakranke wieder schön operieren. Ich wollte gar nichts. Von der Wertlosigkeit meiner künstlerischen Versuche war ebenso überzeugt wie von der Unerheblichkeit meiner musikalischen Darbietungen oder sportlichen Leistungen. An dieser Wertlosigkeit litt ich nicht, ein pures, reines Faktum wie meine Augenfarbe oder der Verlauf der Autobahn.
Ich las wie eine Besengte mit ein paar Freunden um die Wette. Im Wettbewerb um den entlegensten Autor, das gesuchteste Bild, die auratischen Romane, von denen unser Deutschlehrer nur vage gehört hatte, habe ich selten gewonnen. Ich habe auch nicht gesucht. Meine Liebe gehörte der Frühromantik, Novalis war ich verfallen, die Expressionisten las ich rauf und runter. Die zumeist miserablen Gedichte der „Menschheitsdämmerung“ klingen bis heute in meinen Ohren, eine etwas peinliche Verirrung, die ich mit 25 abgestritten hätte. Walter Hasenclevers „Irrtum und Leidenschaft“ war entsprechend das erste Buch, dem ich durch die Antiquariate hinterherjagte, um es ein paar Wochen vor meinem Abitur zu erlegen.
Der expressionistische Überschwang tat mir alles in allem nicht besonders gut. Erwartete ich nichts von meiner beruflichen Zukunft, außer zu funktionieren, erwartete ich von der Liebe alles, romantischen Überschwang, Ekstase, kosmisches Weltgefühl und Verschmelzung. Hatte sich die Tür zum Paradies auf Erden wieder einmal nicht geöffnet, so reagierte ich enttäuscht, grausam, verächtlich gegenüber demjenigen, der schon wieder drei Wochen meiner Lebenszeit gestohlen hatte, die ich im Paradies verbringen wollte, um statt dessen auf den sehr farbigen Couches der Neunziger einen Frosch nach dem anderen zu küssen.
Hätte es Blogs gegeben, damals, hätte ich vielleicht ein fürchterlich verstiegenes, ziemlich ärgerliches Blog geführt. So gab es nur kleine Bücher unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zumeist hübsch, leinen- oder ledergebunden, die mir mein Vater von Reisen mitbrachte. Eine Reihe dieser Bücher steht heute bei mir. Ich blättere durch die Seiten und bin nicht einmal mehr peinlich berührt, so fremd ist mir dieses Mädchen geworden. Aber auf den letzten Seiten, kurz vor Silvester 1996, stehen ein paar Sätze, die schon von mir sind, und nicht von jenem fremden Mädchen.
„Ich fürchte, daß das immer so weitergeht, bis ich sterbe. Daß die große Liebe nicht kommt, und alles immer dasselbe ist für immer und nichts passiert, das sich lohnt.“
Könnte ich mir zurufen, durch diese bald zehn Jahre, dass da nichts kommt außer den immergleichen Ersatzhandlungen, den künstlichen Aufregungen von Spielen in jenem Casino, in dem ich mein Geld verdiene, der Sinnlosigkeit einer sich immer schneller drehenden Welt, deren Alternativen mir ebenso wenig bedeuten wie ihr derzeitiges Sein – ich hätte wohl nicht....
Doch, natürlich. ...ich hätte genau dasselbe getan, hätte ich diesen Ruf aus der kalten Nacht im Berliner März 2005 gehört. Nicht als diejenige, die einen Apfelbaum pflanzt, was mir schon immer als Gipfel der Sinnlosigkeit erschienen ist. Sondern als diejenige, die der Sinnlosigkeit der Welt keine Alternativen entgegenzusetzen hat, und der ein heißer Tee, eine warme Wohnung und die Beschreibung des Wegs nach Teheran reichen.
Nachtrag:
Laut telephonischer Aussage meines Vaters ist das alles nicht wahr. Im Haupte dieses reizenden älteren Herrn führe ich ein Dasein als ein stets vergnügter Fratz, der besonders schön malen konnte.
Ich kann mich kaum erinnern, denke ich weiter auf der Spur des Gesprächs auf dem Weg die eisige Invalidenstraße hinauf. Wie es ist, 19 zu sein, habe ich vergessen. Das Mädchen von 1996 bin ich schon so verdammt lange nicht mehr, dass ich nicht weiß, ob sie mir ähnelt.
Auf den wenigen Photos aus diesem Jahr, und den noch wenigeren Bildern, die ich in Berlin habe, schaut sie schräg an der Kamera vorbei. Die Haare sind lang bis zwischen die Schulterblätter, die Brauen nicht gezupft, und das rot-schwarze Holzfällerhemd verdeckt den Körper, der schlank gewesen sein muss von dem vielen Sport. Dreimal die Woche Rudern und Hockey, und dabei heimlich die Grazien beneiden und sie unheimlich verhöhnen mit ihrem Ballett, schon seit Jahren auf Spitze. Einmal die Woche im Atelier einer Freundin meiner Mutter Ausdrucksmalerei. Den Bildern, die bis heute den Keller meines Vaters zieren, ist anzumerken, dass es da nicht viel auszudrücken gab. Die Schule schnurrte im Hintergrund, für´s Abitur auch nur einen Handschlag zu tun, wäre mit meiner ohnehin unterentwickelten Selbstachtung unvereinbar gewesen. Die im Nachhinein wohl altersadäquate Unsicherheit war garniert – auch dies wohl voll und ganz altersentsprechend - mit einer Arroganz, die vermutlich äußerst unangenehm aufgefallen wäre, hätte ich meine Meinung über den Lauf der Welt ausführlicher geäußert. Über die politischen Träume meines Vaters war ich ungefähr so erhaben wie die Königin von England über die Spice Girls und war überzeugt von der völligen Gleichgültigkeit der Beschaffenheit von Staat und Gesellschaft. Meine Banknachbarin J. (nicht die gleichnamige Berliner Freundin) wollte zum Theater, meine Doppelzweier-Partnerin M. träumte von Olympia, mein erster Freund wollte komponieren und der Zweite Leprakranke wieder schön operieren. Ich wollte gar nichts. Von der Wertlosigkeit meiner künstlerischen Versuche war ebenso überzeugt wie von der Unerheblichkeit meiner musikalischen Darbietungen oder sportlichen Leistungen. An dieser Wertlosigkeit litt ich nicht, ein pures, reines Faktum wie meine Augenfarbe oder der Verlauf der Autobahn.
Ich las wie eine Besengte mit ein paar Freunden um die Wette. Im Wettbewerb um den entlegensten Autor, das gesuchteste Bild, die auratischen Romane, von denen unser Deutschlehrer nur vage gehört hatte, habe ich selten gewonnen. Ich habe auch nicht gesucht. Meine Liebe gehörte der Frühromantik, Novalis war ich verfallen, die Expressionisten las ich rauf und runter. Die zumeist miserablen Gedichte der „Menschheitsdämmerung“ klingen bis heute in meinen Ohren, eine etwas peinliche Verirrung, die ich mit 25 abgestritten hätte. Walter Hasenclevers „Irrtum und Leidenschaft“ war entsprechend das erste Buch, dem ich durch die Antiquariate hinterherjagte, um es ein paar Wochen vor meinem Abitur zu erlegen.
Der expressionistische Überschwang tat mir alles in allem nicht besonders gut. Erwartete ich nichts von meiner beruflichen Zukunft, außer zu funktionieren, erwartete ich von der Liebe alles, romantischen Überschwang, Ekstase, kosmisches Weltgefühl und Verschmelzung. Hatte sich die Tür zum Paradies auf Erden wieder einmal nicht geöffnet, so reagierte ich enttäuscht, grausam, verächtlich gegenüber demjenigen, der schon wieder drei Wochen meiner Lebenszeit gestohlen hatte, die ich im Paradies verbringen wollte, um statt dessen auf den sehr farbigen Couches der Neunziger einen Frosch nach dem anderen zu küssen.
Hätte es Blogs gegeben, damals, hätte ich vielleicht ein fürchterlich verstiegenes, ziemlich ärgerliches Blog geführt. So gab es nur kleine Bücher unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zumeist hübsch, leinen- oder ledergebunden, die mir mein Vater von Reisen mitbrachte. Eine Reihe dieser Bücher steht heute bei mir. Ich blättere durch die Seiten und bin nicht einmal mehr peinlich berührt, so fremd ist mir dieses Mädchen geworden. Aber auf den letzten Seiten, kurz vor Silvester 1996, stehen ein paar Sätze, die schon von mir sind, und nicht von jenem fremden Mädchen.
„Ich fürchte, daß das immer so weitergeht, bis ich sterbe. Daß die große Liebe nicht kommt, und alles immer dasselbe ist für immer und nichts passiert, das sich lohnt.“
Könnte ich mir zurufen, durch diese bald zehn Jahre, dass da nichts kommt außer den immergleichen Ersatzhandlungen, den künstlichen Aufregungen von Spielen in jenem Casino, in dem ich mein Geld verdiene, der Sinnlosigkeit einer sich immer schneller drehenden Welt, deren Alternativen mir ebenso wenig bedeuten wie ihr derzeitiges Sein – ich hätte wohl nicht....
Doch, natürlich. ...ich hätte genau dasselbe getan, hätte ich diesen Ruf aus der kalten Nacht im Berliner März 2005 gehört. Nicht als diejenige, die einen Apfelbaum pflanzt, was mir schon immer als Gipfel der Sinnlosigkeit erschienen ist. Sondern als diejenige, die der Sinnlosigkeit der Welt keine Alternativen entgegenzusetzen hat, und der ein heißer Tee, eine warme Wohnung und die Beschreibung des Wegs nach Teheran reichen.
Nachtrag:
Laut telephonischer Aussage meines Vaters ist das alles nicht wahr. Im Haupte dieses reizenden älteren Herrn führe ich ein Dasein als ein stets vergnügter Fratz, der besonders schön malen konnte.
von: Modeste Schublade: Datum: 3. Mär. 2005, 16:05 Uhr
Trackback URL:
https://modeste.twoday.net/stories/551098/modTrackback