Anders

Immerhin liest man jetzt nicht mehr so viel von diesen "Parallelgesellschaften", die im Sprachgebrauch von Rassisten mit Abitur den Umstand umschreiben, dass Leute, die nach Deutschland einwandern, meistens ein paar Jahre brauchen, bis sie Karnevalsvereinen beitreten und Bausparverträge abschließen. Ich war von diesen Artikeln immer so ein bisschen genervt, denn ich finde das eigentlich ziemlich normal und habe keine Lust, die ganze Zeit davon zu hören, wenn ich Zeitung lese. Bei denjenigen, die von den Parallelgesellschaften sprachen, wirkte die Verschiedenartigkeit von Leuten verschiedener Herkunft nämlich immer ganz und gar nicht normal, denn in der Gedankenwelt dieser Menschen ist Konformität ein ausgesprochen hochgehaltenes Gut.

Nicht so ganz verstanden habe ich zudem, warum diese Menschen Parallelgesellschaften eigentlich nur auf Gruppen von Leuten beziehen, deren Großeltern nicht in den Grenzen Deutschlands von 1937 geboren sind, aber auf der anderen Seite nicht mit der Wimper zucken, wenn sie drei S-Bahnstationen weiter auf Parallelgesellschaften stoßen, bei denen man glatt hintenüberfällt, wenn man mal drüber nachdenkt. Also beispielsweise ich heute in der Schwimmhalle an der S-Bahn Landsberger Allee. Das ist eigentlich nur 15 Minuten Fußmarsch weg, aber - die Berliner werden mir zustimmen - ganz ausgesprochen woanders. Orte, an denen mehr als 50% der Anwesenden tätowiert sind, suche ich an sich nämlich selten auf. Auch Ausrufe wie "Meiki, komm mal zu mich hin!", stammen eindeutig aus einer Parallelgesellschaft, in der ich nicht Mitglied bin.

Oder neulich im Flugzeug. Ich hatte das Hotel nämlich im Internet gebucht, und dann festgestellt, dass es pauschal nur halb so teuer war wie direkt gebucht oder über HRS oder so. Außerdem war der Flug schon drin. Was ich nicht bedacht hatte: Anscheinend fliegt - außer uns Sparfüchsen eben - kein normaler Mensch heute noch pauschal in Urlaub, und so saßen wir in einer Maschine der Lufthansatochter Condor zwischen lauter Leuten, deren Zugehörigkeit zu einer Parellelgesellschaft auf eine fast schon lächerliche Weise auf der Hand lag. Auch über diese Parallelgellschaft ist mir wenig bekannt. Fest steht allerdings, das man in dieser 20 kg mehr wiegt als woanders und Printmuster auf T-Shirts mag. Männer, die Mitglied dieser Parallelgesellschaft sind, tragen übrigens gern Kleidung mit der Aufschrift Camp David.

Im Hotel sind wir dann auf eine weitere Parallelgesellschaft getroffen. Diesmal absichtlich. Der geschätzte Gefährte ist nämlich mit einem Paar befreundet, dessen männlicher Teil in der Türkei Niederlassungsleiter für eine Waffenfirma geworden ist und dann stilecht mit blonder Frau und Kind im schneeweißen SUV im Hotel vorfuhr. Seine Welt sieht der meinen vermutlich sogar ziemlich ähnlich, zumindest auf den ersten Blick, aber bei genauerer Betrachtung sind die Unterschiede auch nicht kleiner als die zwischen uns und den Leuten, die nach einer Landung im Flugzeug klatschen, oder denen, die so ein ganz und gar handgefilztes Waldorfleben führen: Parallelgesellschaften, wohin man schaut. Meine Mutter etwa. Die Putzfrau. Oder der Typ, der morgens immer um 8.15 vor der Bäckerei Zessin über die Straße schlurft, um um 8.17 in immer demselben Abfalleimer nach Pfandflaschen zu graben.

Ich finde das großartig. Zumindest finde ich das lustig. Bisweilen wünsche ich mir, mehr über diese Existenzen zu erfahren, zum Beispiel aus Blogs. Aber wie diese Leute, die Parallelgesellschaften beklagen, mit dieser unglaublichen Diversität klarkommen: Das wüsste ich schon recht gern. Aber sie werden es mir kaum verraten.

marie_sophie - 18. Nov. 2012, 21:57 Uhr

Meine liebste Parallelgesellschaft steigt immer in Frankfurt mit mir in das Flugzeug nach Tel Aviv. Huch, denke ich da seid ihr ja alle. Rivka und Chana die über die Schwiegertöchter klagen, die Chassidim die Gebete murmeln, rüstige Rentner aus Texas, die zur Bar Mitzvah von Amichai reisen, die ukrainischen Tanten, die klebrige Bonbons verteilen und immer findet sich unter den Mitreisenden, auch eine Frau, die jener Adina Mandelstam bis aufs Haar gleicht, bei der ich als Kind Tee aus goldenen, zarten Tassen trank und Geschichten aus Odessa hörte, einer Stadt wie im Märchen.
Modeste - 18. Nov. 2012, 22:27 Uhr

Aus Odessa kam irgendwann um 1850 der Großvater meines Großvaters, ein Seidenhändler. Mein Onkel U. hat vor ein paar Jahren mal nach seinen Spuren gesucht, aber nichts gefunden. Besonders märchenhaft scheint die Stadt damals nicht mehr gewesen zu sein, aber Märchen, das ist bekannt, leben ganz im Herzen des Betrachters.
marie_sophie - 18. Nov. 2012, 22:46 Uhr

Wenigstens zum Träumen muss wohl etwas übrig bleiben, wenn sonst schon alles verloren ging und ob, Adina Mandelstam wohl wirklich aus Odessa kam, oder nur einmal eine ihrer Schwestern von einem Ausflug dorthin berichtete oder ein ferner Onkel auf der Durchreise oder gar der Korallenhändler Nissen Picenzik von dieser Stadt ihr erzählte, das weiß auch ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen.
kittykoma - 19. Nov. 2012, 15:39 Uhr

Ich finde die Existenz von Parallelgesellschaften spannend. Und rum wie num, wie Oma immer sagte, sie nehmen sich gegenseitig nichts. In meinem Forumsmoderationsnebenjob ziehe ich regelmäßig die unflätigen Pöbeleien einer Türkin raus, die über dreckige deutsche Frauen, die nicht als Jungfrau in die Ehe gehen und geizige deutsche Männer, die erwarten, dass ihre Frauen arbeiten, herzieht.
Intoleranz steckt im Individuum. Es kennt sich selbst erst, wenn es "das andere" identifiziert. Rotten die Individuen sich gegen das "andere" zusammen, um sich besser zu fühlen, dann kann es allerdings unangenehm werden.
Ich habe es begrüßt, dass ich nun über Parallelgesellschaften reden kann. Waren wir doch vor über 20 Jahren alle gleich, ob nun kohlrabenschwarz und aus jungen afrikanischen Nationalstaaten, weiß, Moslem und aus dem Kaukasus oder dick, ostdeutsch und Kaninchenzüchter. Ok., manche Leute waren im Vorkommunismus gleicher...

edit: Ich fürchte, ich habe grade das Thema verfehlt.
Falkin - 20. Nov. 2012, 6:45 Uhr

aber natürlich existieren Parallelgesellschaften. Ich gehe da vollkommen mit Ihnen konform, Frau Kittykoma. Und es ist gut, dass es ausgesprochen und nicht - wie von Ihnen bemerkt - weiterhin verdrängt wird, denn dies führt, wie man vor nicht ganz einhundert Jahren erleben musste, lediglich dazu, dass aufgrund von Verdrängung +- nicht stattfindender Klärung und den daraus unnötig erwachsenden Ressentiments, Feindbilder und Hass erwachsen, die sich katastrophal entladen. Nur, wenn die Tatbestände verstanden, die Unterschiede angenommen und auch der Wunsch nach "Parallelgesellschaftlicher Existenz" (wie z.B. von islam. Mitbürgerinnen exzplizit gewünscht) aktzeptiert wird; wenn Andersartigkeit Verständnis findet ohne sich jedwelcher Gleichmacherei beugen zu müssen, dann erst wurde aus der Geschichte gelernt, sind die Wurzeln für individuell wurzelndes Diskrimnierungsdenken und Glaubens-(un-)abhängigen, allseitig existenten Faschismus überwunden.

Liberalität bedeutet nicht, die Katze im Hunderudel zu einem Hund zu erklären, sondern die Katze als solche zu akzeptieren. Davon ist Deutschland - insbesondere Berlin - noch Lichtjahre entfernt.

Hörprobe, Buschkowsky, Neukölln ist überall
Und natürlich wird er für seine treffsicheren Worte mit allerlei aberwitzigen Zeugs belegt. Aber soviel man auch glaubt, weghören zu müssen und wenn man sich die Scheuklappen bis weit über die letzte Synapse zieht: es ändert rein garnichts an den Tatbeständen, die nur dann verändert werden können, wenn sie thematisiert werden. Offen und ehrlich.

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