Froh und munter (I)
Jedes Jahr ungefähr zu Allerseelen beginnt die Dame, die meine Schwiegermutter wäre, wären der J. und ich verheiratet, ausdrucksvoll zu schweigen: Sie fragt nicht, was mit Weihnachten ist, sie spricht nicht über Weihnachten, sie erwähnt anstehende Feiertage mit keiner Silbe, denn sie will den J. auf keinen Fall unter Druck setzen, Weihnachten nach Hause zu kommen. Der J. soll vollkommen freiwillig den ICE nach Hannover besteigen, um sich unter dem mütterlichen Tannenbaum verwöhnen zu lassen.
Der J. aber denkt gar nicht daran, eine Woche lang an den mütterlichen Butterfässern zu sitzen. Der J. fährt das ganze Jahr, Krawatte um den Hals und Pilotenkoffer in der Hand, durch die Lande, der J. möchte Weihnachten auf dem Sofa liegen, und zwar umgeben von engen, handverlesenen Freunden auf dem eigenen Sofa im Prenzlauer Berg und nicht in einem Dorf bei Hannover, wo alle zwanzig Minuten jemand fragt, ob es auch warm genug ist, ob der J. etwas trinken möchte, ob er vielleicht Hunger hat, und ob es nicht schön ist, so zusammen zu sitzen. Die Frage nach dem Hunger ist ganz besonders rhetorisch, denn alle zwei Stunden gibt es unheuerliche Mengen zu essen, die zu verschmähen als konkludente persönliche Beleidigung gilt. Die ängstliche Frage, ob das Zusammentreffen nicht ganz besonders schön sei, darf auf keinen Fall wahrheitsgemäß beantwortet werden.
Jedes Jahr ungefähr zu Christkönig hält es die Mutter des J. dann doch nicht mehr aus. Zart, so subtil wie möglich, lässt sie anklingen, sie wolle den J. Weihnachten sehen. Möglicherweise berichtet sie etwas zu nachdrücklich von der Nachbarin, die zehn Tage lang bei ihrer Tochter in München weilen werde, oder sie fragt nach, was meine Eltern Weihnachten machen. Meine Eltern - das weiß die Mutter des J. genau - fahren Weihnachten meistens weg, oft monatelang.
Irgendwann in der Adventszeit gibt die Mutter des J. sich dann einen Stoß. Wie es denn aussieht, fragt sie dann, und bevorzugt fragt sie mich. Die Anspannung bricht ihr aus jeder Pore, ich verfluche den Umstand, dass der J. keine Geschwister hat, die sich die Betreuung der Eltern zu Feiertagen teilen könnten und rede mich raus. Mir sei alles egal, sage ich, auch wenn das nicht stimmt. Der J. sei zuständig, gebe ich zu Protokoll, und lächele übeaus freundlich, weil es nicht schön sein kann, wenn sich die Verdachtsmomente häufen, der eigene Sohn umgebe sich Weihnachten lieber mit seiner Berliner Ersatzfamilie. Die Idee, dass der J. sich deutlich wohler fühlen würde, wenn seine Mutter Weihnachten mit mehr Gelassenheit und weniger Mahlzeiten angehen würde, leuchtet der guten Frau irgendwie nicht ein.
Schließlich bricht der J. ein und lädt seine Mutter zum Stephanstag ein. Seine Mutter ist ein bißchen geknickt, weil sie sich extensivere Zusammenkünfte vorgestellt hat, ich bin ein wenig ärgerlich, weil ich mir eigentlich überhaupt keine Zusammenkünfte vorgestellt habe, und um jede weitere Quelle der Anspanung auszuschließen, reserviere ich einen Tisch in einem Restaurant. Wenn dann das Essen nicht schmeckt, ist wenigstens keiner schuld.
Dass zwischen Realität und Ideal eine Lücke klafft, verdeutlicht die Mutter des J. in den nächsten Wochen telephonisch. So teilt sie mit, keinen Weinachtsbaum zu kaufen. Das lohne sich nicht, denn man sei ja ganz allein. "Aber ihr seid doch zu zweit!", bricht es dann aus mir heraus. Schließlich haben auch wir als ein kinderloses Paar uns einen Weihnachtsbaum erworben. Das sei etwas anderes, schallt es aus dem Hörer. Na dann, denke ich mir und lege auf. Auch eine Gans solle es nicht geben, höre ich, sondern irgendetwas aus dem Römertopf. "Aber wir kommen ja am 2. Weihnachtsfeiertag zu euch und sehen dann den schönen Baum!", zwitschert die Mutter des J. und läd das Zusammentreffen mit Erwartung auf.
Morgen früh werden die Eltern des J. nun erwartet. Wir haben einen Tisch bestellt. Die circa acht Stunden zwischen Ankunft und Essen hat man sich lang vorzustellen, sehr lang, eine bei genauer Betrachtung sozusagen der Ewigkeit nicht vollkommen unvergleichliche Spanne.
nu
das nächste, vielmehr übernächste stadium ist, dass sie weinerlich zwei tage vor weihnachten anrufen und sich beklagen, dass die enkel so gar nichts mehr von sich hören lassen und man selbst ja irgendwie auch viel zu wenig. und dann ruft man die blagen an, wo immer sie auch gerade sind, und fragt ein wenig streng, ob sie etwa die großeltern vergessen haben, und ist ein bisschen stolz, wenn sie verkünden, dass die karte schon unterwegs ist. mehr kriegt unsereiner ja auch nicht.
und schließlich sollten unsere kinder es mal besser haben als wir. ;)