Es ist so schön an deinem Blut

Auf einmal, ohne ein Wort, ohne Anlass, falle ich aus der warmen Bar, und der Wind zieht mich durch das geschlossene Fenster weit über die Spree. Sehr klein, sehr weit unten, sehe ich mich in einem Sessel sitzen, rauchen, husten und über irgendetwas plaudern, bei dem ich nicht dabei sein muss. So kalt ist der Himmel heute nacht, und die Sterne bohren spitze Zacken in meine Haut, bis ein Schmerz aus den offenen Stellen quillt, von dem ich nicht will, dass es ihn gibt.

Hellwach inmitten der Schlaflosigkeit von Tagen, gekreuzigt an die schmutzige Kugel des Fernsehturms, hänge ich über der Stadt, und erst, als mein Nachbar mich an der Schulter berührt, rutsche ich wieder auf das braune Leder zurück, rauche und huste, bis sich mir der Magen zusammenkrampft, und ein Freund mir beruhigend die Hand auf den Arm legt und die Zigaretten wegschiebt.

„Trink erst mal was.“, bekomme ich ein Glas Wodka zugeschoben, und die scharfe, eisige Flüssigkeit fließt betäubend über die aufgerissene Haut. Weiter treibt mich die Strömung, von dieser Bar in die nächste, die Straßen entlang, immer weiter nach Osten, bloß nicht nach Haus, wo es ruhig ist am Ufer der Nacht, und eine blutige Sehnsucht schweigend auf den Schränken sitzt.

Mukono - 17. Dez. 2005, 15:08 Uhr

die Wunden

die uns die Sterne ritzen, vernarben mit den Jahren und uns wächst eine dicke Elefantenhaut. Für die Sterne ist es nur ein Wimpernschlag an Zeit, bis uns der Himmel klein wird.
Modeste - 18. Dez. 2005, 14:29 Uhr

Es braucht ja nicht viel, um diese Elefantenhaut aufzubrechen: Nichts als ein langer Abend, ein dunkler Dezembertag und ein paar Erinnerungen.
Kirschrot - 19. Dez. 2005, 11:16 Uhr

Wie wahr, liebe Modeste. Ein wunderschöner Text übrigens.
burnston - 17. Dez. 2005, 15:35 Uhr

Das wird hier noch zu einem Neo Gothic Novel Blog. Furchterregend, was Sie da zu Tastatur bringen, Modeste. Leihen Sie sich doch mal eine romantische Hollywood Komödie aus und verbringen Sie einen Abend an die Couch gefesselt statt auf den Fernsehturm gekreuzigt.
che2001 - 17. Dez. 2005, 16:17 Uhr

Warum denn? Schön zu lesen, passt gut zu meinem neuen E.A.Poe/E.T.A.Hoffmann-Hörbuch. Weiter so!
mark793 - 17. Dez. 2005, 17:41 Uhr

Es wird keinen überraschen, wenn ich das sage, aber mir gefallen die etwas düsteren Geschichten hier ausnehmend gut.

Schon so manches Mal, wenn ich dachte, hachja, jetzt hat sich die gute Frau Modeste auf eine bestimmte Text-Machart so richtig eingeschossen, dann zieht sie wieder eine völlig neue Erzählweise aus dem Hut.

Ich finde es gut, dass es nicht so vorhersagbar ist, was ich in dieser Wundertüte immer wieder an Lesestoff finde.
burnston - 17. Dez. 2005, 18:21 Uhr

Werden Sie bitte trotzdem nicht so bierernst wie manche Ihrer Leser, Frau Modeste.
tarsius p. - 17. Dez. 2005, 19:57 Uhr

Bierernst ...

In den meisten Blogs herrscht Belanglosigkeit und ein seichter Unterhaltungston vor.
Modeste kann man in keine Schublade schieben. Ein wenig
Ernsthaftigkeit und auch die Thematisierung von dunklen Seiten des Seelenlebens scheint ja heute fast ein Tabu zu sein.
"Dieses Land braucht Zuversicht!" - Geschenkt!

(Selbst)ironie ist selbstverständlich überlebenswichtig und kommt m.E. hier insgesamt nicht zu kurz.
che2001 - 17. Dez. 2005, 22:09 Uhr

Ja, aber eine augenzwinkernd-nonchalante Selbstironie, die
wunderbar unaufdringlich ist und es ermöglicht, Ernst und
Unernst miteinander zu verbinden.
Modeste - 18. Dez. 2005, 14:26 Uhr

Zur Hölle mit der Ironie. Eine Aussage wird nicht wahrer dadurch, dass man ihr Gegenteil ausspricht, und dass sie zumindest sagbarer würde, ist auch nicht mehr als eine Konvention.
g a g a - 17. Dez. 2005, 22:44 Uhr

ein wunderbarer text.
Au-lait - 18. Dez. 2005, 3:18 Uhr

Benn ich wäre, ber ich bin, dann sei ich, ber ich doch nie war... famos, Frau Modeste. Ich lege meinen imaginären Hut Ihnen zu schickbeschuhten Füßen!
Modeste - 18. Dez. 2005, 14:27 Uhr

Da schaue ich doch geschmeichelt und ein wenig verlegen zu Boden auf mein Paar roter Samtpantöffelchen.
Au-lait - 20. Dez. 2005, 15:21 Uhr

vielleicht trifft man sich vor Silvester oder an Neujahr ja noch auf einen Pantoffelkaffee?! Die Spatzen pfeifen absurde Anwesenheit von den Dächern der Hauptstadt. :)
scip - 18. Dez. 2005, 23:13 Uhr

BL?

Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber für mich klingen Ihre letzten Beiträge immer mehr nach Borderline Syndrom. Schon mal damit beschäftigt? Ich möchte Sie um Gottes Willen nicht therapieren und hoffe inbrünstig, daneben zu liegen. Aber Sorgen mache ich mir da schon ein wenig.
tarsius p. - 19. Dez. 2005, 2:35 Uhr

du meine Güte!
Mukono - 18. Dez. 2005, 23:50 Uhr

alte Elefanten

sind Einzelgänger, und sie haben keine Angst vor dem Alleinsein. Sie leben in ihren Erinnerungen auf angenehme Weise, da ritzt kein Stern mehr.
Was die Bemerkung über Borderline angeht, halte ich sie für sehr oberflächlich. Das ist keine Krankheit, sondern eine nebulöse Sammelbezeichnung. Die Grenzen von normal (das ist leicht schwachsinn) zu einer psychischen Störung sind fließend.
Wohl denjenigen, die diese Grenzen durch kreative Tätigkeiten durchlässig machen. Madame Modeste gehört offenbar zu dem begnadeten Personenkreis. Sie ist eine Bereicherung für jeden Leser.

smile, noch ist Advent

Mukono
special - 19. Dez. 2005, 4:19 Uhr

wäre mein Kaffee nicht so kalt, würde ich Frau Modeste noch mehr Zeilen schenken.
Wunderschön zu lesen, und auch für die nicht hochbegabten Blogleser ein willkommener
Beitrag. Schade nur, dass ich Sie nicht persönlich kenne.
mcwinkel - 19. Dez. 2005, 16:10 Uhr

Wodka als Bepanthen für rissige Sehnsuchtshaut - ob das das Richtige ist?
Kirschrot - 19. Dez. 2005, 17:04 Uhr

Unbedingt. Unbedingt. Leider nur bis zum nächsten Morgen.
King Fisher - 20. Dez. 2005, 0:09 Uhr

Sehr schöner Text. Und ebenso ("merk")würdig. Es kommt mir vor, als hätte ich das auch schon erlebt. Aber vielleicht war es auch nur das Zauberwort: "Vodka".

Ernsthaft: Ist das Ihr Leben, Frau Modeste?
Modeste - 20. Dez. 2005, 12:36 Uhr

Nun, Herr Scip, um meinen Geisteszustand muss man sich keine Sorgen machen, und ich schätze es auch nicht, wenn andere Leute dies tun. Ob meine Bekanntschaft eine durchweg nette Sache ist, Herr oder Frau Special, wage ich trotzdem einmal zu bezweifeln. Dass Blogpersönlichkeit und reale Identität nicht zwangsläufig völlig deckungsgleich sein können, ist ja eine Tatsache, an die man gelegentlich, Herr King Fisher, auch einmal erinnern muss. Und dass Wodka gelegentlich eine großartige Sache ist, Herr MC, bedarf wohl keiner weiteren Begründung.

Und generell: Vielen Dank für die Blumen.
scip - 21. Dez. 2005, 20:48 Uhr

Verzeihung, da bin ich sicher zu weit gegangen, kommt nicht wieder vor.

@che2001: wie Sie auf Halbwissen schliessen, ist trotzdem etwas verwunderlich, aber lassen wir es dabei bewenden.
Modeste - 22. Dez. 2005, 1:12 Uhr

Schon gut, Herr Scip, aber bedenken Sie: Sie kennen mich nicht. Und was ich hier erzähle, ist nie mehr als ein kleiner Ausschnitt einer Person, die nicht nach diesem schmalen Tortenstück beurteilt werden soll und möchte.
che2001 - 22. Dez. 2005, 19:32 Uhr

Halbwissen: Ob das Wissen oder Halbwissen ist, kann ich überhaupt nicht beurteilen, ebensowenig können Sie aber aus der speziellen Ironie und den speziellen düsteren Szenarien der Gastgeberin eine Diagnose ableiten :-)

Ansonsten hat auch Mukono nicht so ganz unrecht. Wahnsinn und Verstand trennt nur eine dünne Wand, ob diese aber von künstlerischer Hand kurzzeitig geöffnet wird, um mit wohligem Schauer einen Blick auf einen Ausschnitt des Pandämoniums zu werfen, oder ob für ein schwaches Ich die Wand zusammenbricht, das sind zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Und Letzteres ist definitiv etwas, das niemanden hier betrifft.
scip - 23. Dez. 2005, 2:23 Uhr

Sie haben vollkommen recht. Ich kann nicht mehr sagen, was mich da umgetrieben hat, mir ist es ziemlich peinlich. Sorry nochmal.
che2001 - 20. Dez. 2005, 16:39 Uhr

Ich muss schon sagen, ein höchst eigenartiger Gebrauch psychologischen Halbwissens. Alles, was für mich aus den Sätzen der verehrten Gastgeberin
spricht, ist eine Mischung aus Ironie, schwarzem Humor, erstklassigem Wortwitz, mitunter skurrilen Ideen, menschlicher Wärme und der Pflege eines recht anspruchsvollen Sprachstils.
Was das geistige Getränk angeht: Ich freue mich schon auf einen schönen Glenfarclas heute abend!

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