Obdachlosenzeitschriften
Sie alle, sofern Sie in zumindest mittelgroßen Städten leben, kennen das Phänomen der Obdachlosenzeitschriften, die von ein wenig herabgekommenen Personen an öffentlichen Orten angeboten werden, um diesen, so sagt man, ein würdigeres Auskommen als die Bettelei zu ermöglichen. Ein ehrenwertes Projekt sei das, hört man allerorten, auch wenn die Zeitschriften leider qualitativ meist wenig überzeugend seien, und so kaufen Sie alle ab und zu von diesen Produkten und werfen sie dann auf der Stelle weg. Dass es eine Schande sei, dass die Gesellschaft so gestrickt sei, dass Menschen auf der Straße vegetieren müssten, derlei hört man auch anlässlich der Verkaufskampagnen, aber was man viel zu selten hört - wie soll ich sagen... Es ist aber, glaube ich, kein wirklich rationales Argument:
Der Glaube an einen und allmächtigen Gott, sagt man, gehöre ja schon einer recht fortgeschrittenen Kulturstufe an, setze ein ganz ordentliches Abstraktionsvermögen voraus, und zu recht sei die Theologie deswegen ein vielsemestriges Studium und nicht jeder Dahergelaufene dürfe daherkommen und die Riten der römisch-katholischen Kirche einfach so wirksam vollziehen. Weil aber die Wissenschaft der Gotteserkenntnis in den letzten par Jahrtausenden schöne Fortschritte gemacht hat, weiß der rechte Gottesgelahrte wie auch sein gläubiger Adept heute eigentlich ganz genau, dass das Opfer selbst dem Allgewaltigen eigentlich recht egal sei, und die Gabe an die Armen etwa nur Zeichen einer ordnungsgemäßen Wesensart, der Milde, der Barmherzigkeit und so weiter.
Bei mir aber, bemerke ich leider stets aufs Neue, hat dieser Fortschritt gegenüber der plumpen Erpressung göttlicher Gewalt noch keinen rechten Niederschlag gefunden, und vielleicht steht auch individuelle Bequemlichkeit dem gottgefälligen Wohlverhalten zugunsten eines simplen Kaufs des göttlichen Segens entgegen. Indes sind die rauchenden Altäre in Berlin ja ein leider seltenes Phänomen, und ein Opfer privatissime etwa in der heimischen Badewanne würde wohl schneller, als es mir recht ist, mein Mietverhältnis beenden. Auch Sie, verehrte Leserinnen und Leser würden sich ja angewidert abwenden von einer Dame, welche in einem Fischgeschäft einen lebenden Karpfen um billiges Geld erwerben würde, um ihn daheim mit einem Filetiermesser abzustechen, auf dass der nächste Prozess gewonnen werde, oder meine Diät möglichst erfolgreich sei. Auch ein pflanzliches Brandopfer findet aus gutem Grund wenig Anklang bei meinen Mitberlinern, und sogar im Tiergarten, wo das öffentliche Rösten ungeschlachter Hammelstücke und ganzer Schweine kein unübliches Phänomen darstellt, wäre eine Person, die zugunsten einer Dissertation „summa cum laude“ einen Rosenstrauß verbrennen würde, und unter beschwörenden Huldigungen dunkler Mächte um das Feuer tanzte, eine ungewöhnliche Erscheinung, die auch von hartgesottenen Berlinern als wenig comme il faut wahrgenommen würde.
Das wirkungsvolle, aber geschmackvolle Opfer muss also dezentere Formen annehmen, und so würden auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, den Opfercharakter derjenigen Handlungen, von denen ich mir günstiges Fahrwasser meines Tuns und Treibens erhoffe, teilweise gar nicht erkennen. Einem der nervenzerfetzenden U-Bahnbettler eine Münze in die Hand zu drücken, etwa, und auf einen erfolgreichen Ausgang einer Verhandlung zu hoffen. Einer steinalten, russischen Blumenverkäuferin einen ihrer mickerigen Sträuße abzukaufen und ihn auf einem Stein im Mauerpark liegenzulassen auf dem Weg zu einer Verabredung. Einen Euro in das Ausgabefach eines Kaugummiautomaten zu schieben, damit irgendein Kollwitzkind sich gleich zehn weitere Kaugummikugeln kaufen kann.
Manchmal klappt's. Aber wenn einer der beschenkten Bettler mir seine mistigen Zeitschriften aufzunötigen sucht, ärgere ich mich ein wenig über den unwissentlichen Versuch, mir statt des göttlichen Wohlwollens nur eine schlechte Zeitung aufzudrängen.
Das aber, sagen Sie sicherlich, sei kein vernünftiges Argument gegen diese wohltätigen Projekte, die schon vielen Menschen einen Absprung aus der Obdachlosigkeit und ein Leben in Würde ermöglicht hätten. Und derlei egoistische Opfer seien an höherer Stelle ohnehin nicht gern gesehen.
Viele Jahre sind vergangen...,
es ist eine von zwei bettelszenen in meinem leben, die ich behalten habe. die andere war in amsterdam. ein optischer lebenskünstler, auch anfang fünzig sprach mich zunächst auf englisch, dann auf deutsch an. er wolle nicht lang drum herum reden, er möchte ein bier trinken. war eine ehrliche nummer, hat er bekommen. hätte er gesagt, er hätte hunger, hätte ich ihn wortlos stehen lassen.
der mann in aachen sprach mich anfang der neunziger, in der am horizont bereits ausklingenden goldgräberstimmung an. und er hatte meinen nerv getroffen. ich, der ich als hans im glück student in meinem selbstverdienten geld schwamm - und er, der anderes erfahren hat, warum auch immer. und irgendwie hat mich diese szene aufs äußerste beschämt. ich gab ihm fünzig mark [nein, das mache ich nicht immer] mit dem satz, daß ich es erbärmlich finde, daß so etwas auf unseren straßen passieren muß. muß es nicht. auch heute nicht. und es gibt immer noch eine steigerung. der grund, warum ich einen großteil der welt nicht mehr bereisen mag. denn hilflosigkeit ist mir mein größtes greuel ...
ich finde inhaltlich nicht den richtigen dreh, worauf ich hinaus will. mein früh gestorbener großvater sagte mal eines tages, als er wohl erkannte welches mögliche potential in mir steckt: stell dich vor die schwachen. oder wie ich es heute sagen würde: richte nicht über sie. ihr leben, ihre zeitungen. denn vieles im leben ist purer zufall und glück ...
Buße ist angesagt
Inhalt sackt aber leider schwer ab. Meine Erfahrungen aus dem katholischen Gottesbild weisen aus, dass Opfer unnötig sind: entweder man kann's, dann wird man auf die eine oder andere Weise zum Ziel kommen. Oder man kann's nicht, dann nützen weder Kerze noch Karpfen: dann nützt nur noch Gnade und Barmherzigkeit.
Gnade und Barmherzigkeit hingegen werdem einem nur dann zuteil, wenn man selbst sie auch zu gewähren bereit ist - und zwar aus einem ganz einfachen Grunde: wenn man selbst gnädig und barmherzig ist (oder sich dies zu sein bemüht), dann entwickelt man eine Antenne dafür, die auch in umgekehrter Richtung wirksam werden kann. Wenn man es nicht geübt hat, dann muss man in Zeiten, in denen man auf Gnade und Barmherzigkeit angewiesen ist, sicherlich untergehen.
In diesem Sinne sind auch Obdachlosenzeitschriften zu kaufen. Denn sie sind nicht durchgehend schlecht layoutet - aber ein gutes Layout kostet verdammt viel Geld, was diese Organisationen meist nicht haben. Auch das Papier, auf dem gutes Layout erst richtig zum Leuchten kommt, ist zigmal teurer als das, was sich diese Zeitungen leisten können. Und der Inhalt ist - wenn er auch nicht so geschliffen formuliert ist wie Ihr weblog - bedenkenswert. Dumm oder larmoyant ist er keineswegs.
Eindeutig ehrlicher muss man allerdings werden. Man darf eine solche Zeitung nur dann kaufen, wenn man sie auch wirklich lesen will. Ebenso darf man die Blumen einer russischen Blumenverkäuferin auch nur dann kaufen, wenn man sie wirklich brauchen kann - sonst unter keinen Umständen, denn das würde dann zu einem Opfer, das niemand will, aber den Verkäufer herabsetzt. Sie glauben doch wohl nicht, dass die russische Blumenverkäuferin Ihnen nicht am Gesicht abliest, dass Sie ihre Blumen über die nächste Mauer schmeißen? Und sie glauben doch wohl nicht, dass das nicht weh tut? Die Würde muss man den "Herabgekommenen" (wie Sie das Phänomen sich geschickt zu umschreiben bemühen) lassen - sie ist viel wichtiger als das Geld in der Tasche.
Ich würde zur heilsamen Buße aufrufen: Madame Modeste schreibt in einer (noch auszusuchenden) Obdachlosenzeitung eine eigene Kolumne. Nur zu dem Zweck, das soziale Gewissen nicht abzuschreiben, sondern konkret hinzuschreiben. Wenn Sie wollen, mache ich Ihnen einen Kontakt zu der hiesigen, Münchner Obdachlosenzeitung BISS [Bürger in Sozialen Schwierigkeiten]. Die hatten ihre Redaktionsräume mehrere Jahre in einem Haus, in dem ich langezeit wohnen und mich der Gastfreundschaft der Benediktiner erfreuen durfte. Leider mußten Haus und Grund wegen finanzieller Unpäßlichkeiten verkloppt werden - jetzt ist da ein Erweiterungsprojekt für die Geldtonnen der Reichen drin.
In Erwartung Ihrer Zusage:
Herzliche Grüße!
Was da soziale Gewissen angeht, Herr Reuter, so wird da von unsereins eine ganze Menge verlangt, eine über staatliche Mechanismen transportierte Solidarität ebenso wie eine private Caritas, die dazu auch noch selbstlos zu sein hat, und keinerlei Erwartungen transportieren darf. Meine Bereitschaft zur Hilfe sinkt allerdings leider recht schnell, wenn die Hilfsbedürftigen keinerlei Anstalten machen, sich selbst aus der Situation zu befreien, in die sie durch eigene oder fremde Schud gelangt sind, oder Ansprüche formulieren, die ich mir auch nicht erlauben kann. Vor einigen Wochen war einmal ein Artikel in der ZEIT über den Einsatz deutscher Langzeitarbeitsloser bei der Salaternte, die reihenweise gar nicht erst gekommen sind oder sich erst einmal haben krank schreiben lassen. Über diese Seite von Armut zu sprechen provoziert natürlich sofort entrüstete Ansagen, man wolle wohl allen Arbeitslosen unterstellen etc. pp.. Will man natürlich nicht und weiß, wie ungünstig Verhältnisse sein können. Nur den ehrlichen Willen, den möchte man schon sehen, und sieht ihn allzu oft nicht.
Und nein, ich glaube schlicht nicht, das es nicht möglich wäre, ehrenamtlich jemanden zu finden, der diese Zeitungen besser layoutet, geschliffener schreibt oder vernünftig lektoriert.