Belehrung eines jungen Mädchens

Wer wird denn gleich von Verstellung sprechen, meine Liebe. Verstellung ist ein hartes Wort. Sprechen wir lieber von einer Art Höflichkeit, einer Konzession an die Menschen um Sie herum, und nicht zu vergessen: Auch an Sie selbst.

Sie möchten aber genau so sein, wie Sie sind? Lachen, wenn Ihnen etwas lustig erscheint, auch wenn sonst keiner lacht? Fluchen, wenn Sie sich ärgern, morgens einfach anziehen, was Ihnen gefällt, auch wenn das sonst keiner trägt? Einfach weggehen, wenn Sie sich langweilen, laut dazwischenfahren, wenn Sie finden, das müsse jetzt so sein?

Na, herzlichen Glückwunsch. Sie werden einigen Ärger haben mit sich selbst und dem Rest der Welt, und – lassen Sie es sich gesagt sein von einer Dame in in Ihren Augen durchaus mittleren Jahren – niemand wird dabei zu Schaden kommen als Sie.

Nehmen Sie beispielsweise den Schulunterricht. Lassen Sie es sich keinesfalls anmerken, etwas besser zu wissen als andere Leute. Sie kommen sonst – eins, zack, drei – in einen unmöglichen Ruf. Insbesondere Begeisterung sollten Sie gefälligst für sich behalten, bis Sie sorgfältig geprüft haben werden, ob das Ziel Ihres Enthusiasmus Außenstehenden auch nur halbwegs vermittelbar ist. Ich beispielsweise genieße bei denjenigen Leuten, mit denen ich einst den Leistungskurs Geschichte besucht habe, vermutlich bis heute einen leicht skurrilen Ruf, der vorwiegend auf eine als reichlich übersteigert empfundene Liebe zur alten Geschichte zurückzuführen ist. Eine vergleichbare Vorliebe für irgendeinen schönen Fernsehseriendarsteller oder eine Band dagegen wird Ihrem Ruf als reizendem Mädchen weitaus weniger schaden.

Sie wollen gar kein reizendes Mädchen sein? Sie wollen so gemocht, ach: geliebt, werden, wie Sie sind? Meine Liebe, niemand wird wegen jener Eigenschaften geliebt, die ihn von anderen unterscheiden. Mit den geistigen Eigenschaften ist es wie mit der Körperlichkeit: Je durchschnittlicher eine Person ist, je gemäßigter ihre Vorlieben und Abneigungen, um so eher darf sie hoffen, auf Anklang zu finden. Dem Begriff der Eigenheiten ist nicht umsonst ein etwas missbilligender Beiklang zu eigen, und alles, was nur Sie, und keine anderen Leute, tun oder denken, wird von jenen Menschen, von denen Sie geschätzt, eingeladen und vielleicht geliebt werden wollen, betrachtet werden wie eine allzu lange Nase, zu dicke Fesseln oder ein zu spitzes Kinn. Lernen Sie beizeiten, Extravaganzen zu meiden.

Lernen Sie lächeln. Jedem intelligenten Wesen fallen Torheiten auf. Nicht besonders intelligent ist es dagegen, sich dies auch anmerken zu lassen. Dummheit und geistige Inkonsequenz, Brutalität und Empfindungslosigkeit, fehlender Schönheitssinn und Banalitäten jeder Art werden nicht den Dummen und Banalen, sondern Ihnen schaden, wenn Sie sich anmerken lassen, dass Sie gelangweilt sind, vielleicht sogar abgestoßen.

Werden Sie unempfindlich. Das Heulen mit den Wölfen ist zu Unrecht in die Kritik geraten. Lernen Sie, Erziehungsmaximen zu hinterfragen: Opportunismus ist eine Kunst, die jedem zum Vorteil gereichen wird, dem man die Meisterschaft nicht anmerkt. Insbesondere aber dies: Schweigen Sie.

Legen Sie sich ein paar Themen zurecht, mit denen Sie Ihre Konversation bestreiten. Versuchen Sie nicht zu glänzen. Ich persönlich spreche meist über Handtaschen, Fluglinien und Bars. Nicht, dass mich diese Themen mehr interessierten als Cicero, das europäische Barock oder die Ontologie – indes verbringe ich meine Abende nicht gern allein, und die Anzahl insbesondere männlicher Menschen, die dies schätzen, ist gering, und wird nicht steigen in den nächsten Jahren. Machen Sie sich nichts vor: Auch jene Herren, die ihrerseits das Barock oder die Lyrik lieben, schätzen ein verständiges Schweigen höher denn einen fachlichen Austausch.

Vermeiden Sie insbesondere emotionale Extravaganzen. Weltschmerz, Düsterkeit, am Ende noch Gedichte schreiben, behalten Sie besser für sich. Das Tonio-Kröger-Syndrom, eine gewisse Portion jugendlicher Verfinsterung, wird nur dort augenzwinkernd gebilligt, wo es bei Knaben auftritt. Als Mädchen, meine Liebe, machen Sie sich höchstens lächerlich, und auch die verdüsterten Jünglinge, werden ihr Herz an muntere, lustig flatternde Geschöpfe verlieren und nicht an Sie. Für weibliches Freaktum bietet die Gesellschaft kein Rollenmodell.

Apropos Gesellschaft: Fangen Sie gar nicht erst an, über Staat und Gesellschaft nachzudenken. Sie werden zwangsläufig auf dunkle Ecken stoßen, Sie werden sich aufregen, denn die Welt ist voller Ungerechtigkeit, und am Ende wird weder die Welt etwas davon haben noch Sie. Beobachten Sie sich sorgfältig - vermeiden Sie die Berührung mit Themen, die Sie mehr als andere empören, denn Empörung ist als Zustand sowohl nutzlos als auch völlig unpassend und geht anderen Leuten zu recht auf den Geist. Aber ich will Sie nicht entmutigen: Haben Sie eine Meinung – aber vermeiden Sie übermäßiges Engagement. Lassen Sie es sich gesagt sein: Die einflussreichsten Menschen, die ich kenne, haben höchstens Spurenelemente feststehender Positionen, und Leute mit ausgeprägten Ansichten lässt zu recht keiner an die Macht.

Und am Ende nur dies: Amüsieren Sie sich. Denn das Leben ist kurz, und wer wären wir, urteilen zu können über andere oder auch nur über uns. Seien Sie angenehm, denn die Welt ist voll der Unannehmlichkeiten, und wo kämen wir denn hin, wenn kluge Menschen ihren Kopf nur um Unruhestiften benützen. Lächeln Sie, bis keiner mehr weiß, dass Sie über – und nicht mit – der Welt über ihre sonderbaren Sitten und Gebräuche das Gesicht verziehen. Und seien Sie nachsichtig. Mit sich und mit allen anderen, und insbesondere mit den Dingen, die Sie nicht ändern werden, weil sie sind, wie sie sind, und vielleicht ist das gut.

kaltmamsell - 1. Jul. 2007, 19:16 Uhr

Amen.
(Da ist diese Schülerin des Mitbewohners, jetzt ein junges Mädchen, von der er seit Jahren regelmäßig erzählt. Die immer wieder aufs Neue durch unkonventionelle Begeisterung und hartnäckiges Umsetzen ihrer schrägen Ideen auffällt - und wenn sie ihr ganzes im Ferienjob erarbeitetes Geld dransetzen muss. Und die doch darunter leidet, dass sie nicht zu den Partys ihrer Klassenkameraden eingeladen wird. Hätte sie mal Ihre Ratschläge berücksichtigt, würde zwar der Mitbewohner nicht von ihr erzählen, aber sie amüsierte sich auf Partys.)
indirekte Rede - 2. Jul. 2007, 12:45 Uhr

mal wieder einen dank

aber auch Kritik: denn das hätte ich doch alles schon vor Jahren wissen müssen, jetzt scheint es (fast) zu spät...
walküre - 2. Jul. 2007, 17:06 Uhr

Der bereits

vor ungefähr 30 Jahren elterlicherseits unternommene Versuch, mich einer in diese Richtung gehenden Gehirnwäsche zu unterziehen, ist mittlerweile als gescheitert zu betrachten, sodass ich gar nicht erst in Erwägung gezogen habe, auf meine Tochter ebenfalls dahingehend einzuwirken. Damit wird unsere Umwelt wohl oder übel leben müssen.
che2001 - 3. Jul. 2007, 16:36 Uhr

Und das ist gut so! Glücklicherweise bin ich von derartigen Erziehungs- und
Beeinflussungsversuchen völlig verschont geblieben. Und auf die Frage meines
Vaters "Wie hast Du den erzogen?" antwortete meine Mutter "Ich habe es gar nicht
erst versucht!"
So waren wir denn mit 20-35 die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt
hatten.
katiza - 2. Jul. 2007, 17:52 Uhr

Ich aber glaube,

wenn Sie wirklich etwas erleben wollen, meine Liebe, leben Sie. Lachen Sie, fluchen Sie und ziehen Sie an, was Ihnen gefällt. Bleiben Sie empfindlich, versuchen Sie zu glänzen, wagen Sie die Extravaganz und schreiben Sie dann Gedichte darüber. Denken Sie nach über Staat und Gesellschaft und empören Sie sich, ja noch besser engagieren Sie sich. Und amüsieren Sie sich.
Aber achten Sie bitte darauf, dass tatsächlich Niemand dabei zu Schaden , außer Sie.
Und lassen Sie sich belehren.
blogger.de:kittykoma - 2. Jul. 2007, 19:44 Uhr

hm. vor einigen jahren hätte ich ihnen unbesehen zugestimmt, frau modeste. ich hatte mich in einer nische eingerichtet, in der auch andere lebten, die nichts mehr liebten als intellektuelle diskursgewitter, problematisieren über gott und die welt und wissen aus entlegensten gebieten.
und dann wechselte ich den beruf und bemerkte, daß es ungeheuer anstrengend ist, menschen kennenzulernen, die glaubten, nur wahrgenommen zu werden, wenn sie etwas leisteten. im falle der (be)werbungssituation für ihre person sich als femme fatale gerierten, als faktenwunder oder zorniger junger mann. statt auf einen anderen menschen zuzugehen mit: he, hallo, hier bin ich und wer bist du?
was gäbe ich in gewissen parkettsituationen nicht her, um wenigstens etwas smalltalkkompetenz zu haben. nicht um an der oberfläche herumzuschlittern, sondern um peu a peu in eine vertrauensvolle situation zu kommen, in der sich mein gegenüber so wohlfühlt, daß es mich auch weiterhin gern trifft. und nicht das gefühl zurückbehält, grade vor einer prüfungskommission gestanden zu haben oder der/die dümmere zu sein.
und so grusele ich mich weiter in solchen situationen. befremde leute mit absurden themen und fragen, mache unpassende witze, lache so laut wie ein 90-kilo-kerl und drücke hände zu fest.
ich lerne da gerade viel meinem freund. der sich ohne probleme zurücknehmen kann, wenn er als mann an meiner seite unterwegs ist. der mit der freundin meines klienten plaudert, ohne sich anmerken zu lassen, wie sturzlangweilig er sie findet und nebenbei noch die eine oder andere relevante hintergrundinformation für mich abspeichert. und ich trainiere mir gerade die profilneurose ab, als frau an seiner seite beachtung über meine leistung finden zu müssen.
interessant ist allerdings, daß ich mit einem 10 jahre älteren mann mit häuptlingsausstrahlung generell als gattin behandelt werde. keiner fragt mich, was ich beruflich mache, es sei denn, ich bringe die sprache darauf. er wird in der umgekehrten situation ganz schnell danach gefragt.
um zum ende dieses elend langen kommentars zu kommen: so zurückhaltend und gemessen, wie ich sie erlebt habe, kann ich mir garnicht vorstellen, daß das oben beschriebene ihr problem ist!
arc - 2. Jul. 2007, 21:02 Uhr

listen, nick; let me tell you what i said when she was born. would you like to hear?

very much.

it'll show you how i've gotten to feel about -- things. well, she was less than an hour old and tom was god knows where. i woke up out of the ether with an utterly abandoned feeling and asked the nurse right away if it was a boy or a girl. she told me it was a girl, and so i turned my head away and wept. "all right," i said, "i'm glad it's a girl. and i hope she'll be a fool -- that's the best thing a girl can be in this world, a beautiful little fool.
che2001 - 3. Jul. 2007, 16:40 Uhr

@ARC: Nur wer das Chaos in sich trägt, kann einen tanzenden Stern gebären.
croco - 4. Jul. 2007, 10:16 Uhr

Ach Modeste, was für ein langweiliges Leben wartet denn auf das junge Mädchen. Sie könnten ja vorher fragen "Willst du eine zweite Paris Hilton werden?" und dann erst ratschlagen.
Remington - 5. Jul. 2007, 22:40 Uhr

Brilliant wie fast immer, vielen Dank. Man kann förmlich sehen, wie sie süffisant das Lorgnon vors geistige Auge führen. Die Ironie ist fast unspürbar, letztlich bleibt nur die Schlussfolgerung, dass man sich selbst aufgeben sollte, um anerkannt und somit wenigstens zufrieden, wenn nicht glücklich zu werden. Erinnert mich an einen Film...moment...Nikita, glaube ich. Die Ausbilderin in "Gesellschaft" sagte wohl: "Lächeln sie, meine Liebe. Dadurch wirken sie kaum intelligenter, aber angenehm für die anderen."
Huehnerschreck - 9. Jul. 2007, 21:36 Uhr

Mme. de Maintenon befand dazu: "Mesdames, souriez afin que plus tard, vos rides soient bien placées." Dem ist nur wenig hinzuzufügen ...

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