Defätismus

Nicht einmal das Vergnügen mache noch Spaß, erzählt die B.. Ablenken habe sie sich wollen von der ganze Misere, ein paar Wochen vor Weihnachten. Ausgegangen sei sie, und weil keiner mitwollte, eben allein. Im Würgeengel habe sie ganz allein einen Wodka Sour getrunken. Am Boxhagener Platz habe sie ebenso allein noch viel mehr getrunken, und mit irgendwelchen Leuten über irgendwas gesprochen. Sie könne sich nicht mehr erinnern. Quatsch halt, lacht die B., und kaut ihr Nigiri, als gelte es, jedes Reiskorn ganz, ganz fein zu zermalmen.

Schließlich saß im Lido in irgendeiner Ecke. Nach Tanzen war ihr nicht zumute. Nach noch mehr Alkohol aber auch nicht, nur ein bißchen reden wollte die B., saß herum, ließ sich ansprechen, erzählte irgendwas über Musik oder so, und hörte mit halbem Ohr jemandem zu, der neben ihr saß. Besonders deutlich sehen konnte sie ihn nicht. Zum einen war es dunkel, zum anderen war die B. schon ziemlich angetrunken, und groß interessiert hatte sie das alles nicht. Als der Fremde nach ihrer Hand griff, ließ sie sie trotzdem liegen.

„Ist das deine Wohnung?“, habe der Fremde sie am nächsten Morgen gefragt, als sie erwachte. Ziemlich nackt und sehr, sehr jung sei der Fremde durch ihre Charlottenburger Wohnung gelaufen, habe ab und zu mit dem Kopf geschüttelt, die Bilder an den Wänden angeschaut und die vielen Bücher. „Schöne Möbel hast du.“, hatte er gesagt. - „In meiner WG studiert auch eine Jura.“, hatte er ihren Schreibtisch kommentiert.

„Gefragt hat er nicht, wie ich alt ich bin.“, sagt die B. und knetet ihre Knöchel. 24 Jahre sei er alt gewesen, elf Jahre jünger als sie, teilt sie mit, und verschweigt, woher sie das weiß. Ein etwas wortkarges Frühstück sei es gewesen, und dann sei er gegangen. Nach einem zweiten Treffen hatte keiner gefragt.

„Ist das nicht trist?“, fragt die B. und sieht aus dem Fenster. Alt habe sie sich gefühlt. Alt und etwas schmutzig. Nicht wie die Prinzessin aus dem Märchen, nicht wie eine schöne, begehrte Frau, sondern wie eine fette, betrunkene Mänade. Wie die Knusperhexe, die den Hänsel abtastet, ob er schon schlachtreif sei.

Noch zwei, drei solche Affären, sagt die B., und dann gar nichts mehr, und am Ende allein in der Badewanne sterben, weil man nicht mehr rauskommt aus dem ganzen Schlamassel.

Was sie falsch gemacht hat, fragt sich die B. „Gar nichts.“, sage ich und suche nach ein paar beruhigenden Worten. - „Um so schlimmer.“, seufzt die B. und wirft einen Zehner auf den Tisch. Bis bald. Und 2008 werde auch nicht besser.

Da müsse man jetzt durch.

marie__ - 11. Jan. 2008, 10:30 Uhr

"Ich bin die Rinnsteinprinzessin, Gelegenheitsbraut
Küss' mir das taube Gefühl von der Haut
Du bist der Prinz auf dem staubigen Pferd
Morgen ist unser Palast nichts mehr wert..."
fragmente - 11. Jan. 2008, 10:33 Uhr

Was also denken Sie, werte Madame Modeste, über die B.? Ist sie zu bemitleiden, weil sie zweifelt, oder zu bewundern ob ihrer Klarsicht? Was wäre ihr zu raten, und wie könnte man sie trösten?
Modeste - 12. Jan. 2008, 1:42 Uhr

Liebe Frau Fragmente, ich weiß es nicht. Ich kann nicht einschätzen, ob B. die Situation realistisch einschätzt, oder ob sie alles etwas schwärzer sieht, als es ist. Für die B. wäre es zweifellos angenehmer, jeden Tag etwas Wunderbares zu erwarten, und am Abend zu Bett zu gehen in der Hoffnung, morgen käme die Liebe nun aber wirklich. Da die B. zum Selbstbetrug nicht neigt, steht ihr diese Sicht auf die Dinge allerdings schlicht nicht offen.

Man weiß es eben nicht. Vielleicht trifft sie morgen den Richtigen in der U5. Vielleicht wacht sie übermorgen auf und hat das Bedürfnis verloren, zu zweit einzuschlafen. Vielleicht kommt sie auf den Geschmack und unterhält mit etwas mehr Leichtigkeit ein paar lustige Liebschaften und hat es gut dabei.

Vielleicht liegt ein Trost darin, dass man kaum Einfluss zu haben scheint auf das Glück, das zur Hälfte aus Zufällen besteht, und zur anderen Hälfte aus einer Tiefe der eigenen Seele kommt, die zu beeinflussen nicht in unserer Macht steht. Mag sein, es ist weder unsere Schuld noch unsr Verdienst, ob wir glücklich werden.
kid37 - 12. Jan. 2008, 15:12 Uhr

Außer man vergeigt es.
Modeste - 12. Jan. 2008, 18:58 Uhr

Da bin ich tatsächlich etwas hin- und hergerissen: Ist man frei darin, ob Dinge gelingen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Verhaltensmuster oft stärker sind als man selbst, dass auch die störenden Eigenheiten mit uns zu verwachsen sind, als dass man sie ablegen könnte, selbst man wollte, und dass alles Wollen, alles Noch-so-sehr-Wünschen oft nicht hilft, weil man nicht kann. Auf der anderen Seite möchte man natürlich weder sich noch andere freisprechen von Verantwortung. Ich weiß es nicht.
arboretum - 13. Jan. 2008, 23:06 Uhr

Die letzte Bahn

Wenn man einer Meldung Glauben schenken darf, die ich vorigen Monat in der Tageszeitung las, ist bei Akademikerinnen, die nach dem Abschluss ihres Studiums Single sind, die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie es auch weiterhin bleiben. Wenn ich mich in meiner Umgebung so umschaue, spricht auch alles dafür, dass das tatsächlich stimmt.

Und was das Vergeigen betrifft, so war demnach die frühe Warnung meiner Kristallkugel wohl vergeblich, schade.
Modeste - 15. Jan. 2008, 1:07 Uhr

Das, Frau Arboretum, ist in der Tat sonderbar. Ich habe davon auch gehört. Ich nehme an, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass mehr Frauen als Männer an festen Beziehungen interessiert sind, und zudem viele Männer ab einem gewissen Altenr vorwiegend an jüngeren Frauen interessiert sind.
kittykoma - 11. Jan. 2008, 11:13 Uhr

luxusprobleme einer 35jährigen. noch mal 15 jahre später würde sie sich wünschen, daß überhaupt jemand mitgeht.
Modeste - 12. Jan. 2008, 1:34 Uhr

Tja, Frau Marie, Frau Kitty - traurig ist das sicher, und wird nicht lustiger, weil es noch trauriger werden mag, hat man erst einmal die letzte Bahn verpasst, und muss wider Willen den Rest der Reise allein sehen, wie man zurecht kommt. Vielleicht aber, das weiß ich nicht, fehlt einer Fünfzigjährigen weniger als einer Dame von 35?
40something - 12. Jan. 2008, 11:37 Uhr

Als jemand, der aus seiner Zeit als 22-jähriger sehr schöne Erinnerungen an Erlebnisse mit einer damals 42-jährigen hat, kann ich die pessimistische Haltung der B. nur sehr eingeschränkt nachvollziehen... Wäre es ihr besser gegangen, wenn ein Gleichaltriger am nächsten Morgen nach einem wortkargen Frühstück gegangen wäre, ohne dass einer nach einem zweiten Treffen gefragt hätte? Ich mein' ja nur.
Modeste - 12. Jan. 2008, 18:59 Uhr

Ich glaube, sie hätte sich nicht ganz so beschmutzt gefühlt, wie unberechtigt wie dieses Gefühl auch sein mag.
nömix - 13. Jan. 2008, 12:26 Uhr

Beschmutzt, warum? (warum hat sie nicht nach einem zweiten Treffen gefragt, vielleicht hätte er gehofft dass sie fragt.)
arboretum - 13. Jan. 2008, 22:37 Uhr

Gibt es eigentlich 35-jährige Männer, die sich nach einem One-night-stand mit einer 24-Jährigen beschmutzt fühlen?
walhalladada - 14. Jan. 2008, 11:18 Uhr

Ja!
Modeste - 15. Jan. 2008, 1:06 Uhr

ich denke nein, aber man weiß erstaunlich wenig über Männer.
walhalladada - 16. Jan. 2008, 14:32 Uhr

Ja:)
arboretum - 16. Jan. 2008, 18:13 Uhr

Bestimmt sind die aber nicht so häufig.

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