Fräulein Pandora

Sofern Sie als Psychotherapeut in Ostwestfalen-Lippe praktizieren, wird möglicherweise in den nächsten Tagen ein sehr spezieller Fall Ihre Sprechstunde aufsuchen. Sie müssen dann sehr sensibel agieren, denn die betreffende, dem Vernehmen nach schöne Dame – jüngste Schwester eines Berliner Rechtsanwalts – ist, wie man hört, gerade reichlich nervös, und gehört zudem der Gruppe derjenigen Menschen an, die es aufgrund einer gut entwickelten Beobachtungsgabe mit hoher Wahrscheinlichkeit bemerken, für ein bisschen geistesgestört gehalten zu werden. Am Besten wird es daher sein, sie hören einfach nur zu, und nicken ab und zu, als sei das, was sie hören, vollkommen alltäglich und komme in Ihrer Praxis nur deswegen selten vor, weil die meisten Menschen – völlig zu recht, ganz klar – die geschilderten Vorgänge für nicht weiter besorgniserregend halten.

Keinesfalls sollten sie die junge Dame unterbrechen, wenn sie immer abwechselnd, atemlos und ziemlich durcheinander über die vier wichtigen Beziehungen ihres Lebens erzählt, auch wenn diese zunächst wenig interessant, sogar vielleicht etwas banal erscheinen. Der erste Freund etwa, ein blonder Schulkamerad des großen Bruders. Der zweite, ein Zivi im örtlichen Krankenhaus. Der dritte, ein ziemlich haarloser Kommilitone an der Universität Münster, und dann der letzte, der vor einigen Monaten verabschiedete, der zunächst sehr, dann ein wenig, und am Ende gar nicht mehr geliebte Herr A., welcher nicht nur p*rnographische Bilder auf der Festplatte seiner Freundin hinterließ, sondern sogar mit von ihrem großen Bruder geliehenen Geld eine andere Dame zwar erfolg-, nicht aber absichtslos bewirtet haben soll.

Nicht unverständlich ist es vor dem Hintergrund dieser Untaten, dass ihre Patientin nach dem Ende der Beziehung von Herrn A. nichts mehr wissen wollte und sich insbesondere für dessen weiteren Verbleib nicht interessierte. Gemeinsame Freunde waren so zahlreich nicht, die Semesterferien taten ein übriges, das ehemalige Paar zu separieren, und so erfuhr die Dame erst vor zwei Wochen, dass Herr A. seit Wochen in seiner ostdeutschen Heimat im Krankenhaus liege, ein Bein, zwei Rippen und einen Arm kompliziert gebrochen, und zudem mit einer unangenehmen Infektionskrankheit versehen, die man manchmal bekommt, wenn man im Krankenhaus ist, und das Krankenhaus ist nicht ganz sauber.

Bitte sprechen Sie den nahe liegenden Gedanken nicht aus, mit Herrn A. habe das Schicksal zur Abwechslung einmal offenbar den Richtigen getroffen. Zwar ist diese Überlegung vermutlich berechtigt. Gleichwohl hat das fremde Fräulein in Ihrem Behandlungsraum Grund zu der Annahme, etwas stimme ganz grundlegend nicht, denn bereits ihr vorletzter Freund – Sie erinnern sich an den ziemlich haarlosen Kommilitonen – sei nur wenige Wochen nach dem vom Kommilitonen eingeleiteten Ende der Beziehung im Spital gelandet, nachdem er beim Beachvolleyball aus Ungeschicklichkeit sich im Netz verfangen, gestürzt und dann mit gebrochenen Haxen abtransportiert worden sei.

Kurz wird Ihnen der Gedanke kommen, die junge Dame sei bei Ihnen als Arzt an der falschen Adresse. Indes werden auch Sie einräumen müssen, dass eine andere Profession hier möglicherweise, zumindest unter ziemlich urbanen Agnostikern, auch nicht originär zuständig ist, und so werden Sie bestimmt auch nach den beiden ersten Freunden fragen, und sich nicht wundern, dass der blonde Schulkamerad des großen Bruders nach dem Ende der Beziehung durchs Abitur gefallen, und der Zivi bei einem Tauchunfall ziemlich lädiert worden sei.

Machen Sie sich nichts daraus, wenn Ihnen auf diese Eröffnungen hin nichts Vernünftiges einfällt, denn das geht den meisten Leuten so, beispielsweise dem großen Bruder, dessen schallendes Gelächter von der Betroffenen als wenig feinfühlig getadelt worden ist. Seien Sie einfach nur nett, beruhigen Sie die junge Dame, geben Sie ihr Schokolade, aber bitte keine Medikamente, sprechen Sie von der blinden Hand des Zufalls, und (in Ihrem eigenen Interesse):

Halten Sie sich ansonsten besser fern.

kittykoma - 10. Nov. 2008, 12:08 Uhr

mir passiert das auch manchmal. ich finds gut.
wobei ich noch nicht rausgekriegt habe, ob das mit dem prostatakrebs, den ich dem betrügerischen ex-lover an den hals gewünscht habe, erhört wurde.
Modeste - 10. Nov. 2008, 22:21 Uhr

Ich würde mich eher erschrecken und kann die eher verstörte Reaktion der kleinen Schwester meines Bekannten daher gut verstehen.
virtualmono - 11. Nov. 2008, 0:00 Uhr

Ich habe meiner Ex in der Phase unseres "Rosenkrieges" auch alles mögliche Schlechte gewünscht... jetzt ist sie tot, und es ist wahrlich kein Spaß, wenn man rückblickend darüber nachdenkt.
Modeste - 11. Nov. 2008, 23:40 Uhr

Oh. Da beneide ich Sie nicht. Meine Wünsche sind glücklicherweise im Bösen wie im Guten beruhigend wirkungslos.

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