Wissenschaft und Schlafstörung im Leben der M.

Zu den eher unschönen Gegebenheiten des Wissenschaftsbetriebes gehört die lästige und unergiebige Angewohnheit, in regelmäßigen Abständen an teilweise abgelegenen Orten zusammenzukommen und sich dort gegenseitig aus den jeweils neuesten Schriften vorzulesen. Abends gibt es äußerst mediokre Buffets mit hartgekochten Eiern und aufgeschnittener Extrawurst, und man ist angehalten, sich mit den anderen Mitgliedern des Mittelbaus zu unterhalten, falls diese einmal wichtig werden, und man später etwas von ihnen will. Kommt es ganz schlimm, wollen andere Beteiligte auf der Stelle etwas von einem selbst, obwohl man schon aufgrund einer schwerwiegenden und in Fachkreisen deutschlandweit berüchtigten Faulheit vermutlich nie wichtig wird, und schauen nach der unausweislichen Abfuhr die nächsten Jahre oder Jahrzehnte jedesmal beleidigt zur Seite, wenn man den Raum betritt.

Des Nachts, um zum eigentlichen Problem zu kommen, übernachtet man kostensparend in Gästehäusern des CVJM oder Zweisternehotels, in denen sonst Bustouristen absteigen. An den Wänden hängen dann sehr sonderbare Bilder auf einer irgendwie pastelligen Strukturtapete, im Bad wartet eine Miniseife darauf, sich mit ihr von Kopf bis Fuß abzureiben, und von den Frühstücksbuffets mag man gar nicht sprechen. Die großartige Idee des stilvollen Kurzzeitheims, welche ihre Verwirklichung so trefflich in pittoresken Absteigen wie in den schimmernden Palästen der Belle Époque findet – in jenen Häusern, die sich auch renommierte Forschungseinrichtungen noch leisten mögen, wird sie gnadenlos pervertiert. In jenen Hotels, die ihren Namen nicht wert sind, wird dem Opfer wissenschaftlicher Umtriebe ein Bett in einem Doppelzimmer zugewiesen. In diesem Bett liegt man dann nach des Tages Müh´ und Last, die mehr oder weniger vertraute Zimmergenossin schläft friedlich vor sich hin, man selbst aber schläft keine Minute und wälzt sich leise hin und her. Man kann ja gar nicht schlafen mit einer Fremden neben sich. Man kann, bei Licht betrachtet, nicht einmal mit guten Freunden im Zimmer schlafen, obwohl man doch weiß, dass weder diese noch jene jemals auf die Idee kommen werden, einem des Nachts den Kopf abzuschneiden. Man hat, kurz gesagt, eine veritable Macke.

Vor Jahren, noch wohlausgestattet mit kindlichem Grundvertrauen in die Welt, war diese meine Marotte noch ganz gegenteilig ausgestaltet: Stets musste die Tür offen sein, eine kleine schummerige Lampe brannte die ganze Nacht auf der weißen Kommode, und wenn ich nachts aufwachte, weil in meinem träumerischen Unterbewusstsein einmal wieder der Teufel los war, kam mein Vater über den Korridor gleich gelaufen und hielt mich fest, bis ich wieder schlief. Schon Klassenfahrten oder Reiterhof allerdings gestalteten sich zunehmend schwierig: Macke zugeben und gegen Entrichtung der Mehrkosten alleine schlafen, ging auf keinen Fall. Mit sechs Mädchen in der Jugendherberge nächtigen ging aber gleichfalls nicht, bis die Übermüdung nach ein paar Tagen dann doch für einen gesunden Schlaf sorgte.

Zunehmende Selbständigkeit in der Planung auswärtiger Aufenthalte half mit den Jahren, diesem Problem aus dem Weg zu gehen: Rucksacktouren ja – aber auf keinen Fall Schlafsäle. Verreisen mit guten Freundinnen? Gern, aber nur getrennte Zimmer. Eine einzige Freundin, erprobt in allen Wasserglasstürmen, die mein Leben so zu bieten hat, behindert nicht meinen Schlaf.

Führt der akademische Tagungscircus seine Mitglieder in Städte, in denen mir liebe Menschen wohnen, so quartiere ich mich im Regelfalle auf den Schlafcouches und in den Gästezimmern dieser meiner Lieben ein. Rege Umzugstätigkeit auf allen Seiten hat die Liste der Städte, in denen ein Zimmer zur nächtlichen Alleinbenutzung zur Verfügung steht, mit den Jahren kräftig anwachsen lassen. Kiel oder Passau, Heidelberg oder Frankfurt am Main, das Ruhrgebiet und die rheinischen Provinzen – alles kein Problem. Weiße Flecken auf dieser Karte stellen allerdings nach wie vor die neuen Bundesländer dar, in die es die Menschen meines Vertrauens offenbar selten oder nie zieht.

Jahrelang wurde dies nie zum Problem. Gibt es irgendwelche Gründe, sich jemals nach Gotha zu begeben? Sind Rostock oder Meiningen Orte, die nicht gesehen zu haben den Fremden schmerzt? Selten oder nie fanden Tagungen im Osten statt, blühende Landschaften der Wissenschaft ließen zumindest in dieser Beziehung auf sich warten, dieses Jahr aber haben sich die Mächte der Finsternis gegen mich verschworen: Fast täglich reiße ich die Post auf und finde Ankündigungen von Tagungen und Seminaren an allen Orten des Ostens, die ich noch nie bereisen wollte...und vor allem: Wo ich niemanden kenne. Und sehe mit Grausen langen, schlaflosen Nächten in tristen Hotelzimmern entgegen.
saintphalle - 19. Apr. 2005, 16:13 Uhr

Es freut mich sehr,

dass ich nicht alleine bin mit dieser Macke. Erst am vergangenen Wochenende wurde ich auf eine harte Probe gestellt, indem mich ein Freund nötigte, mit ihm das Zimmer zu teilen. In den anschließenden Diskussionen gab er mir das Gefühl, ein wirklich ernsthaftes Problem zu haben. Da war dein Text Balsam auf meine Seele. FALLS ich eine Macke habe, so bin ich jedenfalls nicht alleine damit.
martinG - 19. Apr. 2005, 17:31 Uhr

Als ich mal im Osten (Wittenberg) bei einer Tagung war wurde ich auf der Strasse
mit einem Luftgewehr beschossen. Wusste nicht, das man dort mit sowas rechnen muss. Die Unterkunft war aber klasse: grosse, neu eingerichtete Einzelzimmer im Tagungsgebaeude (www.leucorea.de).
Modeste - 19. Apr. 2005, 18:27 Uhr

@saintphalle: Geht doch noch. Leute, die die gegenteilige Macke haben und zwanghaft andere Leute nötigen, mit ihnen das Schlafgemach zu teilen, die finde ich bedenklich.

@martinG: Luftgewehr? Ich glaube, ich überlege es mir nochmal mit den Osttagungen. Ich bin ja auch nicht die teutonischste aller denkbaren Erscheinungen, vielleicht sind die Autochthonen wirklich gefährlich und schlagen einen nieder? Prügelnde Dorfbewohner und Doppelzimmer sind eindeutig mehr als ich ertragen kann.
engl - 19. Apr. 2005, 18:49 Uhr

:-)

freudig schließe ich mich hiermit mit selbiger 'macke' dem allgemeinen schlaflosreigen an. (weiterer ausführungen enthalte ich mich aber lieber, ich bin ja keine wissenschaftlerin.)
gibsmir - 19. Apr. 2005, 23:23 Uhr

S'e ha'm alle nich' jedient, wa?

Aber seit dieser Zeit teile ich keine Zimmer mehr. Wenn ein Arbeitgeber meine Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort wünscht, dann kann er damit nur rechnen, wenn er eine brauchbare Unterkunft organisiert und finanziert. Das ist in meiner Branche mit Aunsnahmen auch so üblich. Bekannteste Ausnahme ist ein nordeuropäischer Weltkonzern, der erwachsene Mitarbeiter schon mal für Monate in einer Jugendherberge unterbringt.

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