Weinbergschnecken

Die I., so vernimmt man von jener fröhlichen, weizenblonden Freundin, habe es auch nicht immer leicht gehabt, und insbesondere der Appetit, um nicht zu sagen: die Verfressenheit – ihres Vaters scheint ihre frühere Jugend auf skurrile, wenn auch für seine Anverwandten häufig wenig unterhaltsame Weise überschattet zu haben.

„Die Sache mit den Kanarienvögeln erzähle ich jetzt nicht schon wieder!“, wehrt die I. ab und wendet sich wieder ihrer Bierflasche zu. Die Geschichte mit den Weinbergschnecken jedoch, die habe sie lange nicht erzählt, und fängt an:

Bekannt ist, dass die Versorgungslage in der DDR die Beschaffung des eher weniger alltäglichen Sortiments an Viktualien in vielen Fällen doch deutlich erschwert habe. Marzipan zum Beispiel... – aber sie wolle nicht abschweifen. Jedenfalls sei auch der Verzehr von Weinbergschnecken in den Häuptern derjenigen, denen die Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen oblag, offenbar nicht vorgesehen gewesen, und so erwuchs in ihrem Vater über Jahre und Monate vergeblich der Wunsch, diese ihm aus der Literatur bekannte Köstlichkeit einmal zu probieren.

„Weinbergschnecken gibt´s doch überall.“, wirft der M. ein, und die I. nickt heftig mit dem Kopf. Ja. Das sei ja eben das Problem.

In einem besonders schneckenreichen Sommer endlich, habe ihren Vater der Wunsch nach der exotischen Köstlichkeit schließlich überwältigt. An einem herrlichen Sommermorgen bemächtigte sich der Vater der gesamten, vier Köpfe zählenden Familie, packte ein paar Plastiktüten ein, und begab sich in einem Waggon der Reichsbahn aus grauer Städte Mauern in die freie Natur. Mit seinen Eigenheiten vertraut, habe man seinem Drängen kaum Widerstand entgegengesetzt, und in ihr Schicksal ergeben habe die ganze Familie drei Tüten voll mit dem schleimigen Getier gefüllt. Die vollen Tüten in der Hand sei man zum Bahnhof zurückgekehrt.

„Die Schnecken waren noch am Leben?“, fragt der M. Das sei eigentlich ja nicht wenig ekelhaft. „Genau.“, sagte die I., und berichtet von der Vitalität der Schnecken, die vom Vorgang des Einfangens offenbar nicht besonders beeinträchtigt worden sei. In dem Maße, in dem man sich Berlin genähert habe, seien die Schnecken sogar immer lebhafter gewesen, hätten die Tütenränder schließlich überwunden, und der Vater habe angesichts der wenig begeisterten Reaktion der anderen Mitreisenden im Abteil seinen Kindern aufgetragen, die Tiere wieder in die Tüten zu verbringen. So sei man dann dahingefahren, geächtet von den anderen Passagieren, misstrauisch beäugt vom Personal der Bahn, und habe schließlich aufatmend das eigene Heim erreicht.

„Hat er sie dann gegessen?“, frage ich die I., die eifrig verneint. Dem Verzehr stand wohl insbesondere die Unkenntnis der korrekten Zubereitung entgegen. Der von keinem Zweifel an seiner Zubereitungskompetenz angekränkelte Vater habe die Tiere zwar immerhin noch mit einer Art weicher Bürste gewaschen und anschließend in einen Topf mit heißer Brühe geworfen, wo die schleimigen Delikatessen sodann ihr Leben aushauchten. Das Ergebnis sei jedoch nicht von einer Art gewesen, die zum Verzehr besonders angeregt habe: Schwärzlich wallender Schaum und ein ekelerregender Geruch hätten ihren Vater vom unverzüglichen Mahl abgehalten.

„Hat er sie dann weggeworfen?“, fragt der M., dessen Miene nicht so ausschaut, als würde er den Genuss derartiger Weichtiere zu irgendeinem Zeitpunkt noch in irgendeiner Form auch nur in Erwägung ziehen. Die I. winkt ab: Zu lange habe das Sehnen des Vaters gedauert, zu hartnäckig habe er an dem Wunsch, dieser Köstlichkeit teilhaftig zu werden, festgehalten, um die so mühevoll zusammengerafften Tiere einfach der Entsorgung zuzuführen. Er habe sie eingeweckt.

„Was?!“, frage ich ein wenig fassungslos, und versuche mir die mit Schnecken mitsamt Gehäuse ordentlich gefüllten Weckgläser in den Kellerregalen des elterlichen Heimes der I. vorzustellen.

Die Vorstellung sei schon ganz zutreffend, erläutert die I., und öffnet sich ein weiteres Bier. Ihr Vater habe also den großen Einwecktopf aus dem Keller geholt, die Weckgläser ausgekocht und sodann mit den Schnecken gefüllt. Einige der Schnecken seien beim Einkochprozess ein wenig auseinandergefallen, dies habe ihren Vater jedoch nicht weiter irritiert. Die allzu faserigen Tierchen, so habe er der Familie ganz ruhig erläutert, seien dann eben für die Katze. Überhaupt solle man der Optik von Speisen, die namhafte Dichter in ihren Werken mehrfach gerühmt hätten, und deren Verbreitung in der eleganten Welt schließlich bekannt sei, nicht allzu große Bedeutung beimessen.

Zu jenem Mahle des Hausherrn und seiner Katze, so schließt die I., sei es indes leider nicht gekommen: Etwas müsse schiefgelaufen sein beim Prozess des Einweckens – bedenkliche Keime müssten trotz des Kochens in den Weckgläsern verblieben sein, und so habe der Inhalt der Gläser beizeiten angefangen, aufs Fürchterlichste zu gären. Nur wenige Wochen später hätten nämlich laute, knallende Geräusche die Familie in den Keller gelockt. Auf den Regalbrettern seien in regelmäßigen, kurzen Abständen die Gläser geplatzt, die Scherben hätten sich im ganze Raume verteilt, und die Geruchsentwicklung gehöre zu den Dingen, die ihren festen Platz in den unschönen Kindheitserinnerungen der I. eingenommen hätte.

Der Vater habe die Reste dann weggeschmissen.
arboretum - 13. Jun. 2005, 1:34 Uhr

Oh, Schnecken habe ich mit meiner jüngeren Schwester eine Zeit lang auch einmal aufgesammelt. Aber nicht, um sie zu essen, sondern wir haben die Wettrennen auf dem Küchentisch veranstalten lassen (sehr zur Freude unserer Mutter). An eine winzige Schnecke mit rosa Häuschen erinnere ich mich noch sehr gut, die war richtig schnell. Wenn man nicht aufpasste, knallte diese Rennschnecke vom Tisch herunter. Zum Glück schien sie sich aber nichts getan zu haben, jedenfalls raste sie danach noch weiter. Eingeweckt haben wir die Tierchen auch nicht, sondern später wieder in die Freiheit auf eine Wiese außerhalb des Gartens entlassen. (Irgendeinen Deal mussten wir unserer Mutter ja anbieten - die Schnecken, die am Rennen auf dem Küchentisch teilnahmen, würden wenigstens keine Erdbeeren oder Blumen fressen.)

P.S.1: Wir nahmen natürlich immer nur Schnecken mit Haus, die konnte man gut anfassen. Weinbergschnecken ohne Haus fanden wir viel zu glitschig. Die Schnecken legten wir zwischen den Rennen in einen Karton, der gut mit Löwenzahnblättern gepolstert war. Es ist erstaunlich, wie lange sich Schnecken paaren können. Der Mechanismus von Schneckenfühlern ist aber viel faszinierender.

P.S.2: Beim Schneckenforscher von Patricia Highsmith habe ich mich allerdings schon etwas gegruselt. Definitiv glitschig.
Modeste - 13. Jun. 2005, 9:10 Uhr

Ja, das ist auch eher die Sorte Kindheitserinnerungen im Umgang mit Schnecken, an die ich mich erinnere. Der erste Kontakt mit Weinbergschnecken in einem Restaurant mit so ungefähr acht oder neun hat mich insofern auch ziemlich verstört. Allerdings hat die Irritation in den Folgejahren doch deutlich nachgelassen - ich esse Schnecken ganz gerne.

Den Schneckenforscher kenne ich gar nicht - lohnt sich das?
arboretum - 14. Jun. 2005, 11:05 Uhr

Das passende Bild gibt's bei mks
arboretum - 17. Jul. 2005, 23:31 Uhr

Frau Modeste, sind Sie nach dem Schneckenforscher an einem weiteren Buch mit Schneckencontent interessiert? Habe hier den Regenroman von der Duve herumliegen, den ich nicht brauche. Mit Sicherheit keine Weltliteratur, aber es hat bisweilen einen gewissen Ekelfaktor und Schnecken gibt's jede Menge, wenn ich mich recht erinnere.
Modeste - 18. Jul. 2005, 14:18 Uhr

Vielen herzlichen Dank, Frau Arboretum, aber den Regenroman habe ich schon letztes Jahr von einer Freundin entliehen und mit mäßiger Begeisterung gelesen.
arboretum - 18. Jul. 2005, 14:32 Uhr

Ich fand ihn auch ziemlich mau. Am besten waren noch die Schnecken-Passagen, andere Teile habe ich quergelesen.
burnston - 13. Jun. 2005, 10:44 Uhr

die woche fängt an wie das wochenende aufgehört hat. mit schnecken. harharhar!
kleiner scherz. bei uns im garten standen früher becher mit bier um die schnecken zu fangen, welche die erdbeerbeete befallen wollten. doch selbst bei einer stattlichen anzahl von gefangenen exemplaren hat es unsere katze nie nach einem griff in den bottich gelüstet. geschweige denn meinen vater. aber ok, das waren keine weinbergsschnecken sondern eher vulgäre nacktschnecken. gleich bin ich wieder bei meinem anfangsscherz, deshalb schließe ich hier.
che2001 - 13. Jun. 2005, 11:18 Uhr

Dabei ist die Zubereitung von Schnecken doch eigentlich nicht schwierig.
In heißer Brühe kochen, tststs....
Modeste - 13. Jun. 2005, 13:09 Uhr

Da hast Du recht - trotzdem scheint sich die Schnecke in kulinarischer Hinsicht keiner besonderen Beliebtheit zu erfreuen. In Privathaushalten begegnet man ihr dermaßen selten, dass ich annehme, Weinbergschnecken stünden auf der langen Liste der aussterbenden Speisen, über die ich vielleicht dieser Tage noch einmal referieren werde.
che2001 - 13. Jun. 2005, 14:25 Uhr

Liste der aussterbenden Speisen

Da stünden zunächst einmal die in Frankreich früher einmal durchaus verbreiteten
Insektengerichte im Vordergrund, vielleicht auch Krokodil (was ich schon gegessen
habe), aber doch keine Weinbergschnecken! *dengeistigenelsässermach*
Modeste - 13. Jun. 2005, 14:55 Uhr

Hier ist Berlin, nicht Strasbourg.
che2001 - 13. Jun. 2005, 15:13 Uhr

Richtig, wir schrieben Einiges darüber. Die Stadt, wo die Flugentenleberpastete mit
Sommertrüffeln
und die Ragout-fin-gefüllten Vol-au-Vent-Bouchers sowie die Weinbergschnecken
in Gewürztraminersoße erfunden wurden, und die Stadt, wo die Currywurst,
der Döner und die Bulette mit Spreewaldgurke erfunden wurden - quel Vergleich!
Don Alphonso - 13. Jun. 2005, 20:55 Uhr

Der kleine Elsässer in mir, aufgrund dessen Guebwillierscher Herkunft mein Nachname der Meinige wurde, hat erst mal eine viertel Stunde geweint. Und macht heute Abend Flammkuchen mit Creme Fraiche.
Heint - 8. Jul. 2005, 14:14 Uhr

Weinberschnecken

Das war wirklich äußerst unterhaltsam. Danke für das Vergnügen, was Sie mir damit bereitest haben.
Im übrigen habe ich sehr ähnliche Kindheitserinnerungen was kulinarisch höchst fragwürdige Experimente angeht. Mein Vater läßt auch heute nicht von entsprechenden Bemühungen, die zum Entsetzen der Familie nicht immer zum gewünschten Ergebnis führen. Letzter Versuch: 1000 - jährige Eier nach original chinesischem Rezept - schrecklich.

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