Von einem Glück aus Sinken und Gefahr
Sie war damals vielleicht 45. Sie hatte eine Praxis, sie hatte einen Sohn, und der Sohn hatte eine Freundin. Das war ich. Sie bewohnte mit ihrem Sohn ein kleines weißes Haus in der Innenstadt, das sehr alt und ganz schmal war, auf jeder Etage nur einen großen Raum oder zwei schmale. Insgesamt gab es sechs Zimmer, wenn ich mich richtig erinnere, die angefüllt waren mit Büchern und alten Karten, Silberleuchtern aus Riga und roten persischen Teppichen. Im Treppenhaus hing ein riesiges, etwas gespenstisches Bild von Gerhard Richter, und in ihrem Arbeitszimmer gab es drei Ikonen, die ihr Großvater aus Russland mitgebracht hatte, als er Petersburg 1917 verließ.
Sie war sehr groß, sehr schlank und sehr blond. Sie rauchte Zigarillos, sie konnte lachen wie ein Kutscher oder eine Elfenprinzessin, je nachdem, und wenn sie einen Raum betrat, waren alle anderen Frauen von einer Sekunde auf die andere durchsichtig und blass und eigentlich gar nicht mehr da. Besonders viele Freundinnen hatte sie deswegen nicht, aber Freunde dafür umso mehr. Wenn sie einen Freund über hatte, warf sie ihn raus.
Mich mochte sie. Manchmal zog sie mich an der Hand aus dem Zimmer ihres Sohnes, der auf dem Bett lag, schwieg, las und rauchte. Ich erinnere mich an Stapel von Büchern neben seinem Bett, Tschechow und Rilke. Mutter und Sohn sprachen nicht eben viel miteinander, genau genommen sprach mein Freund überhaupt und mit niemanden viel, aber mit seiner Mutter sprach er nicht nur einfach so sehr wenig, sondern schwieg aus Prinzip. Als er wegzog, fünf Jahre später, kam er jahrelang nicht zu Besuch und rief nicht mal zu Weihnachten an. Ihren Geburtstag, behauptete er, habe er vergessen.
Ich vergaß ihren Geburtstag nicht. Ich rief sogar noch an, als ich zwanzig war und mit ihrem Sohn seit vier Jahren nicht mehr zusammen. Sie lachte dann immer ein bisschen gerührt und sprach gelegentlich von den Nachmittagen, als sie mir Champagner mit ein bisschen purpurfarbenem Likör in kleine, geschliffene Gläser goss und mich in ihrem halbdunklen Schlafzimmer mit alten Kleidern aus vielen Jahrzehnten an- und auszog wie eine Puppe: Ein kleines Schwarzes, zu dem sie mir lange Perlenketten umlegte, die bis zum Nabel gingen. Ein langes, dunkelrotes Kleid aus Taft, zu dem sie mir die Haare hochsteckte und eine Stoffrose aus einer Hutschachtel zog, die sie mit Haarnadeln über meinem linken Ohr befestigte. Ein Smoking über einem weißen Bustier. Ein altrosa Kleid ohne Träger, zu dem ein breiter Paillettengürtel gehörte, den sie mit Sicherheitsnadeln befestigte, damit er nicht verrutschte.
Zu jedem Kleid erzählte sie mindestens eine Geschichte, in der meistens ein Mann vorkam, immer ein Abend oder eine Nacht, und alle Geschichten, die sie erzählte, hörten sich an, als sei die Liebe nicht etwas, das mit schweigenden, rauchenden Lesern zu tun hatte, die so bedächtig ihre Inselbändchen in der Hand wogen, als komme es darauf an, ihr Gewicht aufs Gramm festzustellen. In ihren Geschichten schien die Liebe mit dem Meer verwandt zu sein, mit Schärfe, mit Salz und der Kälte von Gischt. Männer kamen vor, die gefleckt schienen vor Wildheit und geduckt vor Hass und Begehren. Etwas Metallisches meinte ich damals zu spüren: Einen Geschmack von schwerem, tödlichen Eisen, von Rost und frischem, hellrotem Blut.
Sehr verwirrt kam ich ein oder zwei Stunden später die Treppen wieder hoch und legte mich zu meinem Freund. Meistens las er, gelegentlich schlief er auch, und nie fragte er mich, was seine Mutter mir erzählte oder was wir taten, wenn wir in ihrem Schlafzimmer verschwanden. Kurzsichtig und immer etwas müde streichelte er mir mit der linken Hand über den Rücken, sein Buch fixiert mit einem Kissen, und eine Zigarette zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger seiner Rechten. Warme Hände hatte er, das weiß ich noch, und die Hände vermisste ich am meisten, als ich nicht mehr kam, ein paar Monate später, weil das dort die Liebe nicht sein konnte: Ein bisschen Wärme und eine liebevolle Nachlässigkeit und nichts von Sinken, Gefahr und Verhängnis. Es warte, wenn ich nur suchte, noch etwas Anderes auf mich, nahm ich an und atmete der Liebe entgegen.
Mit den Jahren aber kam und ging die Erwartung wie Ebbe und Flut, doch das Meer blieb still. Ab und zu lehnte ein Schatten in der Tür, lächelte, zeigte mir seine Zähne, die schlanken, blutigen Hände, wartete vergebens und zog wieder ab. Wer kam und blieb, hatte warme Hände, war freundlich, und roch nach Holz, nach Zimt vielleicht, aber nie nach Meer, nach Blut oder Eisen.
Das sei gut so, sagte ich mir irgendwann, und das Eine das Andere mehr als wert. Nicht zu ändern sei das alles zudem, denn die Liebe ist ein Talent wie jedes andere auch, und wer für das Warme begabt ist, ginge im Scharfen, Kalten, wo die Messer sich drehen, wohl unter. Alles sei daher bestens, wie es nun ist, sage und glaube ich mir, und doch kann ich Jahr für Jahr, in den ersten, wärmeren Nächten spüren, wie etwas vorübergeht, zum Greifen nah, nur eine Armeslänge entfernt, und ein Duft in der Luft liegt, betäubend und süß und scharf, aber nicht für mich.
(Ich wüsste gern, wie es ihr geht. In ein paar Tagen hat sie Geburtstag.)