Donnerstag, 2. Juni 2005

Letzter Aufruf! - Concours Berlin - Paris

Der Countdown läuft – acht Wettbewerbsbeiträge sind unterdessen eingegangen, und bis morgen Mittag um zwölf, meine Damen und Herren, haben Sie die einmalige Gelegenheit, mir mit Ihren französischen Geschichten die nächste Woche zu versüßen, in der ich, wieder einmal abgeschnitten von jedweder Zivilisation, in der Abgeschiedenheit vor mich hin modern werde. Am Ende dieser Woche werden die Gewinner feststehen, und bekommen sodann herrliche Preise zugesandt.

Geschichtsfälschung

„Lebst du noch? Du hast tagelang nichts von dir hören lassen!“, mein Vater lacht leise in den Hörer und fragt nach Gesundheitszustand und Ernährung. „Als Kind warst du nie krank.“, sagt er, und nun sei alle paar Monate irgend etwas, was er fehlerhafter oder unzureichender Ernährung zuschreibt, der Hektik der Stadt, die ihm fremd ist, und mangelhafter Fürsorge Dritter sowieso. „Als Kind warst du die Gesundheit selber. Du hast den ganzen Tag gelacht.“, sagt er, und lässt die alten Zeiten hochleben: Ich im Tragetuch auf dem Wochenmarkt, fest vor seine Brust geschnürt. Im Sommer die ganze Terrasse mit einer riesenhaften Brio-Bahn zubauend. Zum Fasching als Hexe verkleidet, fünf Jahre alt.

„Das weiß ich noch.“, sage ich. „Da habe ich tagelang geheult, weil ich als Prinzessin gehen wollte und nicht durfte.“ – Prinzessinnen erschienen meiner Mutter als abgegriffen, unoriginell und daher unvertretbar. „Bist doch immer die Prinzessin.“, beschwichtigt mein Vater den längst vergangenen Kinderzorn, und fährt fort.

Vier Jahre alt bei einer Ballettvorführung. Achtjährig auf dem Geburtstag meines Großvaters, den „Taucher“ aufsagend, im dunkelroten Taftkleidchen und Lackschuhen. Zehnjährig beim Klavierspielen. „Du warst immer gut in der Schule.“, sagt mein Vater, und klagt ein bißchen über die unverständigen Lehrer der exakten Wissenschaften, denen ich immer wieder begegnet sei, und die das glänzende Abitur auf dem Gewissen hätten, das ich wegen ihrer mangelnden didaktischen Begabung nicht besitze.

„Ballett habe ich gehasst.“, versuche ich die Vergangenheit wieder ein wenig zurechtzurücken. In meiner Erinnerung springe ich in einer für Außenstehende sicherlich außergewöhnlich komisch anmutenden Manier als eine Art Walross zwischen lauter Nixen herum. Die auswendiggelernten Darbietungen deutscher Dichtkunst bei eigentlich allen Zusammentreffen der väterlichen Familie rufen mir noch heute, gut zwanzig Jahre später, die Erinnerung an die würgende Aufgeregtheit zurück auf dem Weg zu meinen Großeltern. Die lachende, turbulente Familie, die mit ihrer Heiterkeit meist nicht hinter dem Berg hielt. Die absurde Angst, eine Zeile zu vergessen, und die ganze Feier zu ruinieren mit meinem faux pas. Noch heute verfüge ich über ein imposantes Repertoire deutscher Balladen vorwiegend des 19. Jahrhunderts. - Ich bin eine miese Klavierspielerin, und in sämtlichen Naturwissenschaften wäre ich überhaupt immer und unter allen Umständen mangels jedweder Begabung eine Totalversagerin gewesen.

Mein Vater streitet alles ab. Als Kind sei ich nicht so negativ gewesen. Man dürfe sich nicht der Manier hingeben, in jedem Apfel nach dem Wurm zu suchen, und notfalls den Wurm hineinzudenken. „Das hast du recht.“, sage ich, und dass ich müde sei.

„Dann schlaf schön.“, sagt mein Vater. Und dass ich genug essen soll. Und sagen, wenn ich etwas brauche.

"Mir geht´s bestens.", sage ich.


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