Donnerstag, 15. Dezember 2005

Es liegt gar nicht am Thunfisch

Auch sehr gerne höre ich ja den Gesprächen völlig Fremder an öffentlichen Orten zu, und insbesondere Restaurants oder Bars eignen sich ganz hervorragend, wirklich sonderbare Dinge über andere Menschen zu erfahren, die man nicht kennt. Im Ishin zum Beispiel, diesem wirklich ansprechenden Lokal nahe der Friedrichstraße, wo man mittags für wahnsinnig wenig Geld Unmengen Sushi essen kann, plazieren einen die Kellnerinnen schon aus Platzmangel ja immer ohne den üblichen Abstand von ein, zwei Stühlen neben fremde Leute.

„Guten Tag.“, und: „Da kommt noch jemand.“, sage ich also, und werfe meinen Mantel auf den Stuhl mir gegenüber. Cousin L. indes, von dem schlechte Menschen behaupten, er müsse mindestens ein Elfmonatskind gewesen sein, lässt wie üblich auf sich warten. Zu meiner Rechten sitzt sich ein Paar gegenüber, er ungefähr vierzig mit hängenden Wangen wie einer dieser englischen Hunde, die so fürchterlich sabbern, sie ein bißchen jünger und in einem jener fusseligen Kostüme mit großen Knöpfen, für die die Couturiers namhafter Modehäuser eines Tages für ziemlich viele Jahre in der Hölle braten werden. Neben ihrem Stuhl steht ein riesengroßes Kelly-Bag in einer Farbe, die nicht ganz Flieder und nicht ganz Pink genannt werden kann.

„Ich mag das nicht mehr essen.“, nörgelt meine Nachbarin an ihrem Menü herum, und schiebt ihrem Gegenüber die halbgefüllte Platte zu. „Lass dir doch nicht vom Thunfisch den Appetit verderben.“, gibt das Gegenüber zurück, und ich bedaure, die offenbar bereits vor meinem Eintreffen abgelaufene Diskussion über Thunfisch im Allgemeinen und insbesondere auf der Sushi-Platte der Kostümfrau verpasst zu haben. „Jetzt habe ich keinen Hunger mehr.“, quengelt die Frau weiter und wühlt ein bißchen in ihrer Tasche. „Es liegt gar nicht am Thunfisch, oder?“, fragt der Mann und schiebt sich ein Stück Futo-Maki in den Mund.

„Willst du Silvester wirklich mit ihr feiern?“, stößt die Kostümfrau auf einmal zu. Aha, denke ich. Kommen wir der Sache also einmal näher. – Der Mann stöhnt auf, lehnt sich zurück, und zuckt ein bißchen mit den Schultern. „Wir feiern doch schon Weihnachten zusammen.“, beschwichtigt der Mann und greift nach den Händen der Kostümfrau. Die zieht die Hände zurück, versteckt sie unter dem Tisch und mault ein bißchen weiter.

„Weihnachten oder Silvester, habe ich auch ihr gesagt.“, versucht sich der Mann aus der Bredouille zu reden, und die Frau verschränkt die Arme über der Brust. „Und was erzähle ich dann R. und K., wenn du nicht mitkommst?“, fragt die Kostümfrau und verzieht das Gesicht. „Dann erzählst du halt, dass ich woanders eingeladen bin.“, zieht der Mann die Schultern hoch, und wendet sich wieder seinem Essen zu.

„Das finde ich doch alles ganz schön belastend auf die Dauer.“, resümiert meine Nachbarin, und steht unvermittelt auf. „Jetzt sei doch nicht beleidigt.“, zischt der Mann die Frau an. „Mach’s gut.“, antwortet die, und ist schon durch den halben Laden.

„Da bist du ja!“, begrüße ich meinen Cousin und schiele zu dem nun allein essenden Mann hinüber. Wer ist nun die Frau und wer die Geliebte, überlege ich, und - wie hat es dieser Kerl überhaupt zu mehr als einer Frau gebracht?

Tief gebeugt über seine Platte, die Ellenbogen auf dem Tisch schiebt sich der fremde Mann sein Essen zwischen die hängenden Lefzen.


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