Freitag, 16. Dezember 2005

Meine Kontaktlinse und ich

Ich bin ja leider ein wenig grobmotorisch veranlagt, und so nimmt es nicht wunder, dass das, was anderen Menschen vermutlich selten oder sogar nie passiert, am Montagmorgen tatsächlich eintrat: Mit dem rechten Zeigefinger tauchte ich ein in den Napf, in dem ich acht Stunden vorher meine formstabile rechte Kontaktlinse versenkt hatte, stocherte ein wenig herum, und hielt sodann nur noch das Fragment einer Kontaktlinse in der Hand. Ein sauber herausgebrochenes Stück lag nach wie vor auf dem Grund des Aufbewahrungsbehälters, und ein wenig fassungslos rang ich vor meinem Badezimmerspiegel nach Luft. Sehen konnte ich mich dabei nicht: Bei – 8,25 Dioptrien ist die durch ein Waschbecken erzwungene Distanz zwischen mir und meinem Abbild nahezu unüberbrückbar.

In einem Nebel aus bunten, verschwommenen Flecken fand ich schließlich meine Brille. Mit der Brille auf der Nase stand ich meinem Spiegelbild gegenüber. Ausgesprochen unansehnlich schaute mein Spiegelbild zurück, und ich riss das Gestell wieder von meiner Nase, um Abhilfe zu schaffen. Mit zusammengekniffenen Augen identifizierte ich die Nummer meiner Augenärztin und rief an. Mittwoch, so sagte mir die Schwester, sei mit einer neuen Kontaktlinse zu rechnen.

„Aber was soll ich denn bis dahin machen?“, versuchte ich, die Fassung zu bewahren und überlegte, welche Verabredungen und sonstige Auswärtstermine gegebenenfalls abgesagt werden müssten. Mit Brille, soviel war klar, sollte mich keine lebende Seele zu Gesicht bekommen. „Sie können sich eine Tageslinse holen.“, riet die Schwester und legte auf. Ich stieg in die Dusche, kleidete mich an und verließ das Haus.

Außer Haus, auch soviel war klar, war indes mit Passanten zu rechnen, und so tappte ich annähernd blind die Schwedter Straße aufwärts zum nächsten Optiker. Bis dahin, so hatte ich mir ausgerechnet, würden meine Orientierungsfähigkeiten auch ohne ausreichende Sehschärfe reichen, und ich betrat also das Geschäft auf der Ecke zur Kastanienallee in der sicheren Zuversicht, in wenigen Minuten daheim die Tageslinse einsetzen zu können. Das isolierte Tragen nur einer Kontaktlinse hatte sich in einem nur wenige Minuten währenden Versuch nicht bewährt, und von einem Pflaster auf dem rechten Auge nahm ich schon aus Angst um meine Augenbrauen auf der Stelle Abstand.

„Wir verkaufen keine einzelnen Tageslinsen.“, beschied mich indes die Angestellte des Optikerfachgeschäfts. „Sie müssen schon die ganze Packung nehmen, wir können die Packung sonst nicht mehr verkaufen.“ – Entsetzt stand ich vor den in unscharfen Umrissen der Verkäuferin. „Dann geben sie mir eben eine ganze Packung.“, resignierte ich, und die Verkäuferin kramte ein wenig in Regalen herum, die ich nicht sehen konnte. „Ihre Stärke haben wir gar nicht. Sie müssen bis morgen warten.“ – Ohne Bestellung taumelte ich aus dem Laden, die Kastanienallee aufwärts, unüberfahren über mehrere Ampeln und ins nächste Optikergeschäft auf der Schönhauser Allee, ein Stück nördlich von der U-Bahnhaltestelle Eberswalder Straße.

Die Verkaufsbereitschaft bestand hier durchaus, allein, meine Stärke war auch hier nicht zu haben. „Sie sind aber auch besonders kurzsichtig.“, merkte die Verkäuferin an, und bot mir an, statt dessen eine Linse mit ungefähr zwei Dioptrien weniger zu erwerben. „Ich versuch’s nochmal woanders.“, verließ ich auch dieses Geschäft und wanderte die Schönhauser Allee immer weiter, bis ich vor einer Filiale der Optikerkette Fielmann stand.

„Ich schau mal nach.“, versprach die Verkäuferin, verschwand und kehrte Minuten später mit zwei Linsen zurück. Bezahlen, so die Frau, müsste ich die Linsen auch nicht. „Dankeschön!“, rief ich euphorisch und hätte die Verkäuferin um ein Haar umarmt, jedoch wäre auch dies angesichts des totalen Verlusts der Fähigkeit, die räumliche Distanz zwischen mir und Personen wie Gegenständen in meiner Umgebung halbwegs abzuschätzen, vermutlich fehlgegangen, und überdies wäre ein derartiges Verhalten wohl auch nicht angemessen gewesen, und so verließ ich das Geschäft mit den Linsen in der Tasche.

Daheim stellte ich mir wieder vor den Spiegel, zog die Packung auf, und erschrak: Eine riesengroße Linse, doppelt so groß wie alles, was ich mir bisher jemals ins Auge gesetzt hatte, schwamm in der klaren Flüssigkeit. Erst eine knappe Dreiviertelstunde später war es mir gelungen, die Linse einzusetzen.

„Sie müssen die Linsen abends auf jeden Fall wieder herausnehmen!“, hatte mich die nette Optikerfachverkäuferin ermahnt, und ein wenig mulmig wurde mir bei dem Gedanken, dass dies nicht so einfach werden würde, wie das Entfernen der harten Linsen, die ich mir allabendlich mit einer Art Saugnapf, nicht unähnlich jenen Geräten, mit denen man sperrige Gegenstände aus verstopften Toiletten entfernt, aus den Augen hole. Weiche Linsen, dies hatte man mir mitgeteilt, seien einem derartigen Verfahren nicht zugänglich.

Viele Stunden später sollten sich meine Bedenken fürchterlich bewahrheiten. Mit dem Zeigefinger kratzte ich ein wenig über das Auge, versuchte vergeblich, den Rand der Linse zu ertasten und schob die Fingerkuppe auf der Oberfläche meines Sehorgans hin und her. Nichts bewegte sich. Auch eine Google-Anfrage „Weiche Kontaktlinse entfernen“ löste das Problem nicht. Ratlos und rauchend saß ich auf dem Rand der Badewanne und dachte angestrengt nach. Schlafen, soviel war mir bewusst, durfte ich mit der Linse auf keinen Fall. Zwei Stunden später, so etwa kurz nach sieben, rief ich die J. an und appellierte an ihre Fachkompetenz.

„Also,“, kommandierte die unsanft aus dem Schlaf gerissene Freundin. „Du drückst ein bißchen aufs Auge und schiebst den Zeigefinger nach oben.“ – Ich tat wie mir geheißen. „Jetzt müsste sich die Kontaktlinse eigentlich ein bißchen wölben, und dann nimmst du sie einfach heraus.“ Nichts wölbte sich. „Dann versuch's einfach nochmal, ja? Und lass mich bitte noch ein bißchen weiterschlafen, ich bin hundemüde. Und ruf an, wenn du sie um neun immer noch im Auge hast, dann komme ich vorbei.“

Um 8.38 Uhr warf ich die Tageslinse in den Abfalleimer und legte mich schlafen.


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