Nebraska
Auf der Liste der Fähigkeiten, die man sich im Laufe seiner schulischen Ausbildung erwerben sollte, gehört zweifellos auch die Beherrschung der englischen Sprache, und so schicken Jahr für Jahr Tausende Eltern ihren Nachwuchs für ein Jahr in die englischsprachige Welt, um ihn sodann ansprechend polyglott zurückzuerhalten. Wie man weiß, gibt es dabei im wesentlichen zwei Möglichkeiten – das englische Internat und die amerikanische Gastfamilie – und beide Alternativen bringen ihre ganz eigenen Risiken mit sich. Mein lieber T. beispielsweise, dieser reizende und schon an und für sich eher leptosome Zeitgenosse, kehrte seinerzeit aus einem wirklich strengen englischen Institut um acht Kilo gegenüber dem Zustand bei seiner Ankunft abgemagert zurück und berichtete schaudernd von kalten Duschen und Mahlzeiten, die in jeder kontinentalen Justizvollzugsanstalt eine unverzügliche Rebellion ausgelöst hätten.
Dass mein sowohl überaus unsportlicher als auch dem guten Essen zugeneigter kleiner Cousin sich nicht für die Internierung in einer englischen Erziehungsanstalt entscheiden würde, war vor diesem Hintergrund an und für sich nicht wirklich überraschend, und man entschied sich also für eine dieser Organisationen, die Jugendliche aus aller Welt in amerikanischen Familien unterbringen, um vor Ort den Besuch der lokalen High School zu ermöglichen. Umfangreiche Unterlagen wurden also an diese Organisation versandt, und längere Zeit, also ein paar Monate, hörte ich nichts von der ausländischen Plänen meines jugendlichen Verwandten, bis jener mich Monate später in einem Zustand eher gesteigerter Empörung anrief.
„Nebraska!“, stieß mein jugendlicher Verwandter hervor und dann noch irgendetwas Gotteslästerliches, was ziemlich schlecht zu verstehen war. „Herzchen“, beruhigte ich den Kleinen und bat um chronologische Darstellung der ebenso aufregenden wie ärgerlichen Ereignisse, die sich abgespielt haben mussten, um meinen eigentlich verhältnismäßig friedlichen Cousin zu derartigen Ausbrüchen zu bewegen.
Diese Organisationen, die Schulkinder in fremde Länder transportieren, haben es ja so an sich, dass man sich die genaue Region der ziemlich großen Zielländer nicht einfach aussuchen kann, sondern, ähnlich wie bei der ZVS, zugewiesen wird. Alle seine Freunde, so berichtete mir der Kleine, hätten es dabei ganz gut getroffen, New Hampshire, Boston, Florida – und nur er, nur er müsse ein ganzes Jahr in Nebraska verbringen und weigere sich nach einiger Information über diese eher ländliche Region, den geplante Aufenthalt auch anzutreten. „Kann ich gut verstehen.“, kommentierte ich, meine Tante allerdings zeigte für diese Weigerung aus irgendwelchen Gründen keinerlei Verständnis, und so hänge der Hausfrieden schon seit einiger Zeit vollkommen schief. „Kann man da denn gar nichts mehr machen?“, fragte ich, und schaute mir das ziemlich menschenleere Nebraska im Internet ein wenig an. Nebraska sieht langweilig aus.
„Warum immer ich?“, verzweifelte mein Vetter und beschrieb sein sechzehnjähriges Dasein als eine ziemlich eindrucksvolle Kette unerfreulicher Zufälle und unwahrscheinlicher, aber unglücklicher Umstände, die stets ihn und nie andere Leute träfen. „Hmpf.“, sagte ich und hielt ansonsten wohlweislich den Mund.
„Mein lieber Cousin!“, verkniff ich mir zu sagen: „Wie meine umfangreiche Lebenserfahrung mich gelehrt hat, zerfällt die Menschheit in zwei ungefähr gleich große Teile: Der eine Teil hat es gut getroffen - Wenn er verschläft, ist der Lehrer krank. Wenn er auf dem Weg zum Bahnhof im Stau steht, hat auch der ICE Verspätung. Wenn er sich verliebt, wartet das Objekt der warmen Empfindungen seit Monaten nur auf einen Anruf, um sich ihm in die Arme zu werfen. Wenn er einen Job sucht, wird in der Company seiner Träume gerade eine Stelle frei, und sein zukünftiger Vorgesetzter ist der Onkel seines besten Freundes.
Bei dem anderen Teil verhält es sich sozusagen andersherum: Wenn er sich verliebt, liebt die Geliebte immer jemanden anders. Wenn er Klausuren schreibt, kommt immer dran, was er nicht gelernt hat. Und wenn er einmal im Leben schwarzfährt, kommen die Kontrolleure der BVG und nehmen ihn mit, weil er zufällig auch keinen Personalausweis dabei hat.
Und zu dieser Gattung gehörst, mein geschätzter und bedauernswerter Cousin, offensichtlich auch du.“
...sagte ich nicht und beendete das Gespräch mit den herzlichsten Beteuerungen meines Mitgefühls und dem Wunsch nach weiterer Information.