Samstag, 29. April 2006

Frühling in Berlin

Monatelang liegt der Himmel so tief und schwer über Berlin, als wolle er die Stadt erdrücken. Jede Wolke wiegt ungefähr so viel wie ein ganzer Verein von Sumoringern, wenn sich denn auch diese Menschen in Vereinen zusammentun, und der Wind pfeift durch die Straßen der Stadt, als gelte es, Berlin einmal kräftig abzukärchern, was die Stadt auch einmal gut abkönnte, denn porentiefe Reinheit gehört nicht zu denjenigen Attributen, mit denen die Fremdenverkehrszentrale Berlins um Gäste werben könnte.

„Sauber wie Berlin“ wird wohl auch in den nächsten Jahren nicht zu den stehenden Redewendungen gehören, die ausländischen Studierenden beigebracht werden, wenn sie sich mit der deutschen Phraseologie bekannt machen, und aus der „Berliner Reinlichkeit“ wird wohl kein Pendant zur „Schwäbischen Sparsamkeit“ oder der Dummheit, die man den Ostfriesen gerne nachsagt, allerdings zu Unrecht, wie ein bekanntes, ursprünglich ostfriesisches Beispiel lehrt, aber wer wird schon ein Vorurteil über Bord werfen, nur weil es nicht stimmt, denn Vorurteile, wie man weiß, hat der Mensch ja nicht, um sie nach erfolgter Falsifikation zu verwerfen.

Genauso gut wäre es natürlich möglich, dass die Berliner mit den Jahren ihrer eigenen Propaganda irgendwann glauben und anfangen würden, tatsächlich sehr sauber zu werden, ihren Abfall in eigens zu diesem Zweck aufgestellte Behälter zu werfen und den Kot ihrer Hunde in Tüten zu tun und ebenfalls der Vernichtung in Müllverbrennungsanlagen zuzuführen. Weil der Berliner, wie das diesmal berechtigte Vorurteil weiß, allerdings geradezu stolz auf seine Widerborstigkeit ist, wird daraus vermutlich nichts werden. „Klinisch rein wie Friedrichshain“ wird auf riesigen Plakaten stehen, auf denen Stadtoberhaupt Wowereit einladend ein Staubtuch schwenkt, aber der Berliner wird nicht erst von Gewissenbissen gezwackt und dann sauberer, nein, er wird vielmehr abfällig durch die Nase prusten und dann seinen kalbsgroßen Köter extra auf den Bürgersteig machen lassen als ein Akt der stolzen Renitenz gegen die Obrigkeit, und die liebe Frau Fragmente wird auch bei ihrem nächsten Besuch an Panke und Spree dem heimeligen Duft Friedrichshains nicht vermissen. "Herzlich willkommen, liebe Frau Fragmente!", wird Berlin ihr entgegenstinken, und alle Hunde dieser Stadt wedeln stolz mit dem Schwanz.

Berlin wird also nicht sauberer werden, der Berliner Winter nicht erträglicher, in dem, wie diesmal eher die Fama als das Vorurteil weiß, schon in den zehn Minuten vom "Visite ma tente" bis zum 103 mehrere Leute so im Zeitraum Januar bis März erfroren sein sollen. Der Berliner Sommer allerdings, der Berliner Sommer ist großartig, und um ihn, um die vier, fünf Monate im Jahr, in dem die Stadt Kapriolen schlägt und lacht, und der Sommer selber auf dem Falkplatz Würste grillt, um diesen Sommer lohnt es sich, auszuharren und auszuhalten, wenn die Stadt im Winter alle zehn Minuten einmal kräftig die morschen Zähne fletscht. Der Sommer ist also toll. Einen Frühling, um noch ein bißchen zu nörgeln, einen Frühling gibt es hier aber nicht.

An einem, sagen wir: Donnerstag, trägt die Berlinerin einen Mantel über dem zentimeterdicken Schurwollpullover, Handschuhe verhüllen ihre blauen Finger, und mit einer gestrickten Mütze auf dem Kopf läuft sie ganz schnell von der Tram bis in die nächste Bar. Selbst Strecken von zehn Minuten zu Fuß fährt sie mit dem Taxi, und nachts schläft sie unter zwei Decken, von denen eine aus Schaf gemacht ist und so schwer ist wie der Schafe zwei. - Am Samstag aber schon sehen wir die selbe Frau im Polohemd mit einer Sonnenbrille auf dem Helmholtzplatz sitzen, sie hält ein Eis in der Hand, sie spielt Boccia, sie überredet den T., den Grill anzuwerfen, und den J., im Prater das erste Weizenbier des Jahres zu trinken. Sie packt alle ihre T-Shirts und Tops aus und betet, dass es dieses Jahr gelingen würde, einen Bikini zu kaufen, in dem sie nicht ausschaut wie ein dickes rasiertes Schaf kurz vor der Schlachtung oder ein Friedrichshainer Hund. Am Freitag aber, am Freitag fand der Frühling statt, die Zeit der Trenchcoats und der Baumwollpullover, die Zeit, in der man Fahrradfahren kann, ohne zu erfrieren oder zu schwitzen, die Zeit, in der die Bäume grün werden, was tatsächlich in Berlin in aller Regel innerhalb von maximal drei bis vier Tagen geschieht, denn auch die Bäume sind Berliner und lieben die Gemächlichkeit nicht: Entweder tun sie nichts, oder sie tun es ganz, ganz schnell.

Dann ist der Frühling vorbei, und manchmal, wenn in der Zeitung oder in Büchern, deren längst verstorbene Autoren irgendwo anders gewohnt haben, der Frühling bedichtet wird als ein übermütiger, feingliedriger Jüngling, ein knabenhafter Pan in den maigrünen Wäldern, ein junges Mädchen mit Flöte und Blumenkranz, dann erinnere ich mich, dass auch ich den Frühling gesehen habe, letzte Woche in Friedrichshain. Ein junger, leicht abgerissener Kerl war's, in eigenhändig bemalener Lederjacke, unbestimmt blond und etwas struppig dazu, und einen unförmigen, knochigen Hund hatte er an der Leine. Hund samt Herrchen lungerten über den durchaus etwas räudigen Platz. Ein bißchen bleich sieht er aus, dachte ich bei mir, aber genau, so ganz genau kann ich ihn nicht beschreiben: Nur einmal lief er um den Platz, und war viel zu schnell wieder weg. Wer genau hinsah, konnte einen Pflasterstein und ein Paket Zündhölzer in seiner Hand sehen, denn mit dem gemeinsamen Werfen von Pflastersteinen und dem Entfachen ritueller Opferfeuer, bei denen ganze Kraftfahrzeuge den Stadtgöttern dargebracht werden, pflegt der Berliner jährlich am 1. Mai die warme Jahreszeit zu begrüßen.

„Ey, haste'n bißchen Kleingeld für was zu trinken für mich oder einen Fahrschein, den du nicht mehr brauchst?“, hat er dieses Jahr, glaube ich, zu mir gesagt, aber das kann auch ein Missverständnis gewesen sein.



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