Samstag, 20. Mai 2006

Pour de nouvelles Aventures

Zum Grand Meaulnes von Henri Alain-Fournier

An manche Bücher mag man nicht mehr gehen, wie man auch vormals geliebte Männer manchmal nicht wiedersehen mag, um die Erinnerung an ein Gefühl nicht mit einem unreinen Tropfen zu verfärben. Aber mehr zehn Jahre nach der ersten Lektüre greift man doch noch einmal zum Grand Meaulnes, weil man ihn einmal so geliebt hat vor vielen Jahren, und hat nur ein wenig Angst, der schmale, 1913 erstmals erschienene Band, möge beim Wiederlesen ein wenig enttäuschen, wie es ja manchmal zu gehen pflegt, wenn man weiter gewachsen ist seit der ersten Lektüre, als die Grenzen eines Buches reichen.

Eine ländliche, fast märchenhaft unberührte Welt des ländlichen Frankreichs in der Neige des 19. Jahrhunderts zeichnet Henri Alain-Fournier: Die Schule, deren Schulmeister der Vater des Ich-Erzählers Seurel ist, der nicht ausziehen wird zu jenen Abenteuern des Augustin Meaulnes, diesem jugendlichen, späten Vetter des Taugenichts. Aber die Moderne, die Stadt, so fern sie zu rauschen scheint, hat doch ihre Kompliziertheit, ihre Skrupel und ihre Halbheiten in diesem abenteuerlichen Geist hinterlassen, der achtzehnjährig in der Schule auftaucht als neuer Schüler, die anderen Schüler fasziniert, sie um sich sammelt und sich anfreundet mit dem, der die Geschichte erzählt. An deren Ende wird es ein Paar geben in der Zurückgezogenheit eines Kindheitshauses, nur ein einziges Paar also findet sich, auf dessen Glück wir hoffen, aber Augustin wird ebenso wenig sein Glück finden wie der Ich-Erzähler, und so ersteht ein schmerzliches, zartes Arkadien in der Sonne dieses Romans.

Lauter Träumen laufen die Protagonisten hinterher, deren wehenden, schnell verwehten Abglanz sie gesehen zu haben meinen. Ein Fest in einem falschen Sommer, in das Augustin Meaulnes gerät aus Zufall und Verirrung wie wohl ein reiner Tor ein Schloss finden mag, und es nicht wiederzufinden vermag aus eigenen Kräften. Eine Hochzeit soll gefeiert werden, und pittoresk, romantisch verkleidet wie diese ganze, leise, in ihrer Lebenslust doch dezente Geschichte, warten die Gäste auf das Brautpaar, doch die Braut, wiewohl liebend und geliebt, ist auf und davon. Der Bräutigam, Franz de Galais, wird sich eine Kugel in den Kopf schießen und, überlebend, Jahre umherirren auf der Suche nach der verlorenen Braut. Eine weitere geliebte Frau verschwindet, kaum hat Meaulnes sie gesehen. In die Schwester des Bräutigams, Yvonne de Galais, verliebt er sich, ohne sie zu kennen, und sie zu finden treibt ihn wieder und wieder auf die Suche nach dem Schloss, als er längst zurück ist in der Schule und es nicht wiederzufinden vermag. Der Traum von einem Paradies, als das das Schloss Eingang findet in die Phantasie nicht nur des Meaulnes, der einen Abend und eine Nacht im Schloss verbracht, der Traum von einer stillen, innigen Liebe, von einer Ruhe zwischen Feldern, Wasser und einem befriedeten, schweigenden Himmel, die dem Meaulnes nicht vergönnt sein wird, denn die Suche nach dem Abenteuer, die ihn, noch halb unbewusst, als Schüler erstmals hinaustreibt, wird ihn auch am Ende nicht loslassen. Wie Franz wird wohl auch er über die Straßen Deutschlands treiben, auf der Suche nach einer Ganzheit, die untergegangen war schon in den Jahren, in denen Fournier ihn erfand.

Die Gärung und die Nervosität der Jahrhundertwende, die an unerfüllbaren Sehnsüchten entzündeten Nerven einer späten und allzu filigranen Welt mögen es sein, die den Kosmos des Meaulnes unterscheidet von der Welt der deutschen Romantik. War dem Taugenichts aber noch das Glück etwas Erreichbares, wenn die geliebte Frau die dem Handwerksburschen erreichbare Kammerzofe war statt der Gräfin, und das Sehnsuchtsland Italien ein Ort, an dem man fahren konnte, so ist das Schloss des Meaulnes aber nicht mehr ein bloßes Gebäude irgendwo am Land, wohin man sich einfach wenden könnte, denn nur für einen Abend, einen vergeblichen Anlass, hat ein flüchtiger Moment, eine dekorative, pittoreske Laune, Stein und Mörtel vergoldet, und mit dem Abend verschwindet das Paradies, das die Protagonisten doch nicht aufhören können zu suchen.

Auf der Suche wird eine Freundschaft zerbrechen. Die Ehe der Yvonne de Galais mit Augustin Meaulnes wird nur einen einzigen Tag dauern, an dem Yvonne sterben wird. Der Ich-Erzähler verrät den Meaulnes, dieser wird den Franz de Galais verraten, der verstoßen durch sein eigenes Unglück in unwürdiger Gesellschaft krank und verstört über Land zieht, und ob das unsichere Glück, das schließlich ein erreichbares Glück zerstören wird, den Tod und die Flucht und die Heimatlosigkeit wert gewesen sein wird - wir wissen es nicht, und Fournier lässt es uns nicht wissen.

Keine Idylle ist es also am Ende, was Fournier als einzigen vollendeten Roman hinterlassen hat, und doch scheint durch den Spalt in der Schlosstür, am Ende der Straßen, auf denen Meaulnes Franz de Galais suchen wird, und selbst in der Kläglichkeit der stehlenden Komödianten, der oft stumpfen und brutalen anderen Schüler, der Enge der Provinz, die Möglichkeit eines Glücks auf, das zu suchen wir nicht mehr kraftvoll genug sind, und dessen Zerbrechlichkeit und schneller Verfall, so leidvoll wenig mehr als eine Augentäuschung, es uns doch greifbarer erscheinen lässt als die Welt der rotbackigen Romantik, für deren Abenteuer uns der Glaube fehlt an die goldenen Töpfe am Ende des Regenbogens.

Und so sitzt man denn zwischen Feldern und Bäumen über Hügelketten, so weit das Auge reicht, irgendwo im Nichts im Bergischen Land in einem Wagen vier Stunden lang im Stau, und liest sich wieder zehn Jahre zurück in eine blühende, fließende, schimmernde Vergangenheit, und möchte wieder mit Meaulnes auf Abenteuer ziehen, bei denen es um Liebe geht, um sommerliches Glück, Erlösung und all diese Dinge, von denen wir wissen, das es sie meistens nicht gibt.



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