Samstag, 10. Juni 2006

The happy Kollwitz Family

Die kleine Anna-Lena wirft einen bunten Ball hoch, fängt ihn wieder, wirft ihn höher und lässt ihn auf den Boden fallen. Ihre Mutter sitzt auf der niedrigen Mauer des Spielplatzes am Kollwitzplatz, isst Kirschen aus einer Papiertüte, und Anna-Lenas Vater trinkt Erdbeerbowle. Der Vater trägt ein gestreiftes Hemd, vielleicht Paul Smith, beigefarbene Hosen, asics in beige und braun an den Füßen, und bestimmt hatte er in den Achtzigern einmal so eine Föhnfrisur und war blond. Jetzt hat er nur noch wenig Haare und die ganz kurz rasiert, denn dann fällt das nicht so auf. Ansonsten sind hier alle blond, außer uns, der kleine Junge mit dem adrett verwuschelten Stufenschnitt und dem roten Halstuch zum kurzärmligen Hemd. Das Mädchen im schilffarbenen Kleid mit geblümter, seidiger Taille von Noa Noa, und ihre Mutter, die mit einer rotblonden Freundin Törtchen löffelt, Pâtisserie von Lautz, und ihr irgendetwas erzählt. „Nein!“, reißt ihre Freundin amüsiert die Augen auf und breitet die Arme aus zum Zeichen, dass sie das nun wirklich nicht gedacht hätte, also nie im Leben....worum es geht, verstehen wir aber leider nicht.

Ob der Mann in den hellen Cargo-Hosen mit blauem Hemd und riesengroßer Sixties-Sonnenbrille zur Mutter oder zur Freundin gehört, können wir auch nicht sehen. Mit ein paar Tüten in der Hand steht er vor den beiden Frauen. Aus einer Tüte schauen ein paar Lauchstangen hervor, Sellerie, Brot scheint er auch gekauft zu haben, und vielleicht noch irgend etwas Verderbliches, denn er schwenkt ungeduldig zwei-, dreimal die Tüte, sagt etwas und verschwindet dann, die Kollwitzstraße abwärts Richtung Schönhauser. Die Mutter und die Freundin reden weiter, das kleine Mädchen hat auf einmal ein anderes, noch viel kleineres Mädchen, noch viel blonderes Mädchen an der Hand, und die beiden laufen kreischend und lachend hintereinander her.

Ein drittes Mädchen will auch mitspielen, zerrt ihre Mutter ungeduldig an der Hand in Richtung der anderen Kinder, aber die hat keine Zeit und beide Hände voll mit Tüten und Taschen. In einer Tüte beult der Spargel, den man durch die Lücke zwischen zwei Ständen sehen kann, hoch aufgetürmt.

Der kleine Junge mit dem Halstuch hat jetzt keine Lust mehr zu spielen und sitzt neben seiner Mutter. Die bindet ihm das Tuch neu, und er hebt den Kopf ein bißchen an, wie Männer, wenn man ihnen spaßeshalber einmal die Krawatte bindet. Gute Schuhe hat er an, fällt mir auf, und mein Begleiter erinnert mich an die Kinderabteilung letzte Woche bei P&C, wo man Kinder vollausstatten kann, die in zwanzig Jahren immer noch Sohn sein werden, weil ihnen nichts einfallen wird, was einträglicher und amüsanter sein wird als einfach so zu bleiben, wie man sowieso gerade ist. Das aber, sind wir uns einig, finden wir eigentlich ziemlich blöd. Nie im Leben, finden wir alle drei, würden wir Cashmerepullover mit dem big pony drauf in Größe 144 kaufen oder ein Burberry-Hemdchen für Dreijährige oder so. Auf keinen Fall würden wir eine weitere Generation von Leuten aufziehen, denen es mit zwölf so gut geht, dass sie keinerlei Anstalten machen werden, erwachsen zu sein, bevor sie 35 sind.

Niemals aber auch, fällt uns ein, würden wir solche Kinder haben wollen, wie wir sie schon in der Schule nicht ausstehen konnten. Kinder mit Koffern, die gut in Mathe wären und hässliche Brillen mögen. Kinder, die Mitglied der Umwelt-AG würden, wegen toter Robben weinen und dann den ganzen Haushalt terrorisieren, weil man den Müll nicht trennt und Pfandflaschen ab und zu wegschmeißt, weil man keine Lust hat, zu Kaisers zu gehen. Natürlich würden wir auch keine Kinder haben wollen, die später Bankangestellte würden und Einfamilienhäuser kaufen, in denen dann so Kunstdrucke aus dem Baumarkt hängen. Mit den zerlaufenden Uhren von Dali drauf. Und Kindern, die Kevin heißen und jeden Satz mit „wa!“ beenden, hätten wir natürlich auch nicht.

The happy Kollwitz family, fällt uns ein, finden wir ja irgendwie alle nicht so, aber über the happy Spandau family lohnt es sich ja nicht einmal mehr zu lachen, und das Weddinger Familienglück existiert ja eigentlich überhaupt nur noch als Problem. The happy Passau family geht natürlich gar nicht, zum Amokläufer würde man da oder anfangen, sehr heavy zu trinken, und mit dem Familienglück wäre es wieder nichts. Aber wie man es richtig macht, das wissen wir alle drei nicht, die wir da sitzen, am Kollwitzplatz, ein Glas Cidre von Wegehaupt in der Hand, und den anderen Leuten zuschauen auf dem Weg vom Markt nach Hause.



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